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„Daydrinking“ eine harmlose Alltagsflucht oder ein bedenklicher Trend?

Kommentar schreiben Aktualisiert am 09. Oktober 2018

Alkohol zu trinken, ist für die meisten Deutschen eine liebe Gewohnheit. Bier, Wein, Sekt und andere alkoholische Getränke gehören auf Partys, in Kneipen oder auf dem heimischen Sofa ganz einfach dazu. So ein Drink schmeckt gut, entspannt nach getaner Arbeit, trägt zur Geselligkeit bei und macht nicht zuletzt locker und kommunikativ. Doch die so beliebten promillehaltigen Getränke machen auch viele Menschen krank. Alkohol ist die Droge Nummer eins in Deutschland. Statistisch konsumiert jeder Erwachsene Jahr für Jahr fast zehn Liter reinen Alkohol. Der Drogen- und Suchtbericht der Bundesregierung aus dem Jahr 2016 belegt, dass in Deutschland etwa 1,3 Millionen Menschen im Land alkoholabhängig sind und jährlich etwa 74.000 Menschen an den Folgen ihres Alkoholkonsums sterben. Nur ein Drittel der Bevölkerung im Land lebt nach aktueller Einschätzung komplett abstinent. Ein riskant hoher Konsum quer durch alle gesellschaftlichen Schichten. Dass dieser Konsum der Gesundheit schadet, wissen nicht nur Experten, sondern die meisten, die Alkohol trinken, auch. Trotzdem wird weiter getrunken – nicht nur am Abend, sondern vielfach auch schon tagsüber. Manche wollen gar einen neuen Trend ausgemacht haben: das sogenannte „Daydrinking“ also das Trinken am helllichten Tag.

 

Um es gleich vorwegzunehmen: Schädlicher als das abendliche Zechen ist das „Daydrinking“ nicht – wie beim Trinken im Allgemeinen kommt es ganz auf das rechte Maß und das sonstige Trinkverhalten an. Sprich: Ab und zu mal tagsüber zu trinken, selbst ein ordentlicher Rausch hin und wieder ist bei Erwachsenen durchaus ok – das sagen auch Gesundheitsexperten. Um ein, zwei Gläschen bei Tage gut wegzustecken, sollte aber der Rest des Tages möglichst arbeitsfrei sein, denn mit vernebeltem Hirn lassen sich wichtige Aufgaben nun mal kaum konzentriert erledigen. Meist wird Alkohol tagsüber auch als „schwerer“ und ein kleiner Schwips als unangenehmer und länger anhaltend empfunden. Das hat auch einen handfesten Grund: Wer tagsüber trinkt, tut das meist beim Essen. Nach einer Mahlzeit ist die Leber jedoch vor allem damit beschäftigt, die Kohlenhydrate aus dem Essen abzubauen und kann den Alkohol also nicht so schnell verarbeiten. Somit bleibt dieser länger im Blut und wirkt entsprechend länger nach.

 

Früher gehörte „Daydrinking“ zum guten Ton

 

Bei vielen ist das „Daydrinking“ – anders als früher – regelrecht verpönt. Bei Geschäftsessen Alkohol zu bestellen gilt in fast allen Kreisen heute als „No go“. Manche, die sich an „gute alte“ Zeiten erinnern, mögen das beklagenswert finden. Früher war nicht nur „mehr Lametta“, sondern auch mehr Sprit, um es mal flapsig auszudrücken: Kaum eine Baustelle, bei der nicht der Kasten Bier für die Arbeiter bereitstand. Der Postbote trank gern mal ein Schlückchen zwischen Tür und Angel, wenn man es ihm anbot, und ältere Journalisten erinnern sich, teils mit verklärtem Blick, dass kaum eine Redaktionskonferenz ohne Bierchen, Weinchen oder Sektchen abging. Bis in die höchsten Etagen reichte die Alkoholseligkeit – der große Willy Brandt wurde von Weggefährten – ganz ohne Spott übrigens – gerne mal „Weinbrandt-Willy“ genannt, und ein Urbayer wie der (bier-)selige Franz Josef Strauß hat wohl keine seiner gefürchteten Bierzeltreden abgehalten, ohne sich vom frisch Gezapften schon einige Schlucke einverleibt zu haben. Der grüne Ex-Außenminister Joschka Fischer, für Respektlosigkeiten ja bekannt, lästerte einst – als er gerade auf dem Abnehm- und Gesundheitstrip war – über den Bundestag als „eine unglaubliche Alkoholiker-Versammlung“.

 

Die Zeiten, als in Deutschland tagsüber der Alkohol in Strömen floss, sind definitiv vorbei, und selbst auf bayerischen Polit-Veranstaltungen wird heute mehr alkoholfreies als promillehaltiges Bier ausgeschenkt. Allenfalls Dorf-Bürgermeister gratulieren den Altersjubilaren ihrer Gemeinde heute noch mit einem vormittäglichen Likörchen in der Hand an. Ansonsten findet, was viele Umfragen belegen, das Trinken hauptsächlich nach Feierabend statt (außer vielleicht im Winter, denn da wird es früh dunkel, und ein Glühwein auf dem Weihnachtsmarkt schmeckt auch schon um fünf Uhr nachmittags hervorragend!).

 

Ein Hauch von Dolce Vita

 

Doch Spaß beiseite: Was spricht überhaupt fürs „Daydrinking“? Viele sagen, es habe was vom lässigen italienischen „Dolce far niente“ und trage zum „Dolce vita“-Gefühl bei, im Sommer tagsüber im Straßencafé ein Glas Weißwein oder einen Aperol Spritz zu bestellen. Tatsächlich haben sich hier die vormals so arbeitsamen Deutschen einiges von den italienischen Lebenskünstlern abgeschaut und lassen inzwischen gerne auch im Alltag zwischendurch mal fünfe gerade sein – was uns ja eigentlich insgesamt sympathischer machen könnte. Befürworter des „Daydrinking“ behaupten, der leichte Schwips bei Tageslicht sei die schönste Form des Betrunkenseins, weil genau dieses doch oft so unbarmherzig helle Tageslicht dann so schön „verwische“ und sich schon am Mittwochvormittag ein wunderbares Samstagabend-Gefühl einstelle. Andere wieder sehen im „Daydrinking“ gar die Voraussetzung dafür, am nächsten Tag ganz sicher nicht mit einem Kater aufzuwachen. Klar: Wer schon vormittags zu trinken beginnt, ist sicherlich spätestens am Nachmittag müde – und geht früh ins Bett.

 

Zudem gibt es natürlich immer noch Firmen, in denen regelmäßig „einer einen ausgibt“, etwa weil es schon wieder Freitagnachmittag und „eh gleich Feierabend“ ist oder weil es ganz einfach immer wieder neue Erfolge, einen Ein- oder Ausstand und anderes zu feiern gibt. Hier gilt es, vorsichtig zu sein. Abstinente Mitarbeiter – darunter nicht selten auch trockene Alkoholiker – fühlen sich bei „Gelagen“ im Büro allzu schnell ausgeschlossen oder werden von den zunehmend angeschickerten Kolleginnen und Kollegen gar als Spaßbremsen verspottet. Auch kann es bei steigendem Alkoholkonsum beim einen oder anderen schnell zu mancherlei Entgleisungen kommen, die sich dann bei den anderen für alle Zeiten peinlich ins Gedächtnis brennen. Auf so etwas sollten zumindest die Vorgesetzten ein Auge haben, bei Bedarf mäßigend eingreifen und die abstinenten Mitarbeiter vor solchen Angriffen schützen. Helfen kann dabei, dass ganz selbstverständlich neben den alkoholischen auch alkoholfreie Getränke in der Runde angeboten und trinkende Spötter sofort klar und deutlich zurechtgewiesen werden. Denn das sollte jedem klar sein: Alkoholabstinenz macht niemanden automatisch zur Spaßbremse!

 

„Risikoarmer Konsum“ ist für viele zu wenig

 

Fassen wir zusammen: die Argumente, die für das „Daydrinking“ sprechen, sind zum Teil durchaus nachvollziehbar und unter dem Gemütlich- und Geselligkeitsaspekt nicht von der Hand zu weisen. Was dennoch ganz ernsthaft berücksichtigt werden sollte, ist nun einmal dies: Alkohol schadet. Viel Alkohol, über lange Zeit regelmäßig genossen, kann sehr krank machen und sogar töten. Und der richtige Umgang mit der Alltagsdroge ist für viele sehr schwer.

 

Was viele nämlich gerne in seligem Angeduselt-Sein vergessen: Alkohol ist ein Zellgift, und wer zu viel davon konsumiert, ist nicht mehr zurechnungsfähig. Schon ab 0,5 Promille (die man schon nach zwei „Gläschen“ Bier intus haben kann) lassen Aufmerksamkeit, Konzentration, Reaktionsvermögen und realistische Risikoeinschätzung, dagegen steigt die Risikobereitschaft. Und schon ab 0,8 Promille (also schon nach „relativ geringem“ Alkoholgenuss und bei dem Wert, mit dem man bis vor nicht allzu langer Zeit gerade noch als „fahrtüchtig“ galt!) ist die Wahrnehmung deutlich beeinträchtigt und die Reaktionszeit stark verlängert, auch die körperliche Koordinationsfähigkeit beginnt sichtbar zu leiden. Als Faustregel gilt, dass ein kräftig gebauter Erwachsener, der mindestens 60 Kilogramm auf die Waage bringt, nach einer Mahlzeit entweder einen halben Liter Bier, 0,25 Liter Wein oder 4 cl Schnaps konsumieren darf, um danach unter der 0,5-Promille-Grenze und damit noch fahrtüchtig zu sein.

 

Kaffee, Mineralwasser und Co. beschleunigen Alkoholabbau nicht

 

Den Alkohol wieder aus dem Körper heraus zu bekommen, braucht Zeit. Der Abbau des Giftes erfolgt zu etwa 90 Prozent über die Leber, weitere kleinere Teile werden über die Atemluft (als „Alkoholfahne“) abgegeben, über die Haut ausgeschwitzt oder über die Nieren mit dem Urin ausgeschieden. Hier wieder eine Faustregel: pro Stunde werden etwa 0,1 bis 0,2 Promille Alkohol abgebaut. Als sicher gilt, dass den Alkoholabbau weder größere Mengen Kaffee noch Mineralwasser noch extra eingenommene Mineralien oder Sport beschleunigen können. Bei all diesen Angaben handelt es sich allerdings nur um grobe Richtwerte, die individuell enorm abweichen können. Deshalb gilt für verantwortungsvolle Trinker, ob tagsüber oder abends, eine eiserne Regel: Wer mehr als ein Gläschen gehoben hat, sollte auf jeden Fall das Auto stehen lassen. Und wer jemanden in der Runde hat, der eindeutig mindestens beschwipst das eigene Auto ansteuert und den Heimweg antreten will, sollte diese Person mit allen Mitteln am Fahren hindern – die schwerwiegenden, oft tödlichen Folgen von Alkohol am Steuer zeigen sich allzu oft in schlimmen Bildern am Straßenrand.

 

Wenn es nicht mehr beim gelegentlichen Trinken bleibt, wenn Alkohol regelmäßig, ja täglich konsumiert wird, wenn auch das „Daydrinking“ nicht mehr die Ausnahme, sondern eher die Regel wird, spätestens dann schadet es nicht, sich ernsthafte Gedanken über den eigenen Alkoholkonsum zu machen. Zunächst einmal fragen sich viele, wieviel sie überhaupt trinken „dürfen“, um nicht als alkoholgefährdet zu gelten. Tatsächlich gibt es solche offizielle Empfehlungen. Lange Zeit galt es (z.B. laut Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung) als noch in Ordnung, wenn erwachsene Männer pro Woche maximal 120 Gramm (etwa neun 0,33-Liter-Flaschen Bier) und Frauen höchstens 70 Gramm (etwa fünf bis sechs 0,33-Liter-Flaschen Bier) reinen Alkohol zu sich nahmen. Bei einem Wein mit 12 Vol.-Prozent sind das dann pro Woche sieben 0,2-Gläser für Männer und knapp vier für Frauen. Jedoch werden und wurden diese Empfehlungen regelmäßig weit überschritten. Laut aktueller Statistik wird angenommen, dass jeder Mensch ab 15 Jahren im Durchschnitt 165 Gramm reinen Alkohol pro Woche zu sich nimmt. Wohl bekomm´s? Absolut nicht.

 

Kein Alkohol ist auch eine Lösung!

 

Inzwischen wurden die offiziellen Empfehlungen für risikoarmen Alkoholkonsum auch noch deutlich nach unten korrigiert. Nach neuesten, breit angelegten und langfristigen Untersuchungen gelten schon weitaus kleinere Mengen Alkohol als gesundheitsgefährdend. Die neue, aktuelle Empfehlung lautet: Jeder Erwachsene, egal ob Frau oder Mann, sollte pro Woche nicht mehr als 100 Gramm reinen Alkohol trinken. Das sind umgerechnet knapp acht Bier à 0,3 Liter, fünf Gläser Wein à 0,2 Liter, 11 Gläser Sekt oder sechseinhalb Gin Tonic. Auf die Woche gerechnet, ganz schön wenig, oder? Forscher, Mediziner und andere Experten sind jedoch unerbittlich: Wer mehr trinkt, erhöht sein Risiko, früher zu sterben oder an Herz-Kreislauf-Leiden zu erkranken. Nachweislich kann das Zellgift Alkohol das Leben verkürzen, indem es über 200 physische und psychische Krankheiten oder Symptome auslöst oder verschlimmert. Zu hoher Alkoholkonsum kann das Risiko für schwere Leber-, Magen-Darm-, Herz- und Speiseröhrenerkrankungen drastisch erhöhen, und auch Demenz und mehrere Krebsarten sind in vielen Fällen auf Alkoholmissbrauch zurückzuführen. Nicht zu vergessen die zahllosen Fälle betrunkener Auseinandersetzungen oder Autofahrten, bei denen Menschen verletzt oder getötet werden.

 

Es kann also gar nicht oft genug betont werden, dass Trinken nur in Maßen zu befürworten ist. Ganz allgemein gesagt, sollte es eher die Ausnahme sein statt die Regel. Und, glauben Sie´s ruhig: Sogar eine Firmenfete kann auch ganz ohne Alkohol ziemlich lustig werden! Wer Genusstrinker ist, gerne mal „einen hebt“, der sollte mindestens drei Tage die Woche komplett auf Alkohol verzichten. Viele legen auch für einen oder mehrere Monate ein „Alkoholfasten“ ein. Beide Maßnahmen entlasten den gesamten Organismus, helfen, insgesamt gesünder zu leben und Erkrankungen vorzubeugen. Und nicht zuletzt ist ein gutes Glas Wein, gelegentlich und in geselligem Rahmen getrunken, ein größerer Genuss, wenn es nicht jeden Tag eingeschenkt wird.

 

Wer tatsächlich feststellt, dass er gefährdet ist, in die Sucht abzugleiten oder bereits ein süchtiges Verhalten bei sich feststellt, der kann an vielen Stellen Hilfe bekommen. Als erste Orientierung könnte ein Blick ins Internet dienen: Ratgeberseiten wie www.kenn-dein-limit.de, www.alkoholtherapie.net oder die Webseiten der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung www.bzga.de geben einen guten Überblick über den gesamten Themenkomplex und nennen Anlaufstellen und Hilfsmöglichkeiten überall im Land. Ganz wichtig für Betroffene ist dabei, sich klarzumachen: Alkoholismus ist nichts, wofür man sich schämen muss, sondern eine Erkrankung, die behandelt werden kann. Und wer es schafft, aus dem Trink-Teufelskreis auszubrechen und sich Hilfe zu suchen, dem gebührt sowieso allerhöchster Respekt!

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Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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