Den Schmerz überwinden: Trauern als wichtiger psychischer Prozess
Nach dem Tod eines geliebten Menschen – egal ob aus der Verwandtschaft oder dem Freundeskreis – fallen viele Leute in ein Loch. Das Leben scheint keinen Sinn mehr zu machen, die Zukunft erscheint trist und nicht lebenswert. Trauern ist wichtig, um die Beziehung zum Verstorbenen aufzuarbeiten und einen Abschluss zu finden. Trotz grob gegliederter Trauerphasen gibt es kein „Richtig“ und „Falsch“. Jeder verabschiedet sich von dem Verstorbenen genau so individuell wie die Beziehung zu Lebzeiten war.
Egal ob der Tod in naher Zukunft absehbar war oder ganz plötzlich eingetroffen ist: Freunde und Verwandte leiden enorm unter der Situation, auch wenn das nicht auf den ersten Blick offensichtlich ist. Bis die Trauer überwunden ist und der Alltag wieder stattfinden kann, können mehrere Wochen, Monate, in einzelnen Fällen auch Jahre vergehen. Jeder verarbeitet das Geschehen anders. Bis der Tod komplett überwunden ist und Betroffene dem Verstorbenen einen Platz im Inneren einräumen können, vergehen bis zu sieben Jahre.
Die Phasen des Trauerns nach Verena Kast
Die Schweizer Psychologin und Professorin Verena Kast entwickelte ein Modell der Trauerphasen. Demnach erlebt der Zurückgebliebene vier verschiedene Phasen. Diese können fließend ineinander übergehen, unterschiedlich stark ausgeprägt sein und sind an keinen „Zeitplan“ geknüpft. Das Trauern um einen geliebten Menschen ist sehr individuell. Auch Rückschläge können vorkommen.
Phase 1: Das Nicht-Wahrhaben-Wollen
Diese Phase setzt direkt nach dem Tod der geliebten Person ein. Viele verfallen in eine Art der Schockstarre. Sie funktionieren, planen die Beerdigung und regeln die Angelegenheiten des Verstorbenen. Immer wieder kommt der Gedanke auf „Das kann doch nicht wahr sein!“ und der Tod wird noch nicht in seinem vollen Umfang realisiert. Trotz der Starre regen sich Gefühle im Inneren. Manche Personen suchen das Gespräch mit der Familie oder den Freunden, andere ziehen sich lieber zurück.
Angehörigen des Trauernden fällt es oft schwer zu helfen. Es ist unangenehm das Thema anzusprechen oder über Gefühle zu reden. In der ersten Trauerphase können Sie den Betroffenen mit ganz alltäglichen Dingen unter die Arme greifen. Helfen Sie dabei, Erledigungen zu tun, gehen Sie mit dem Trauernden zu den anstehenden Terminen und seien Sie einfach da und lassen Sie ihn nicht alleine. Außerdem ist es wichtig, alle Gefühle des Trauernden zu akzeptieren und auch einmal die eigenen Empfindungen ehrlich auszudrücken.
Phase 2: Aufbrechende Gefühle
Erst in der zweiten Phase realisiert man den Verlust. Es folgen Trauer, Selbstzweifel, Orientierungslosigkeit, Verzweiflung und depressive Verstimmungen. Diese Trauerphase beginnt häufig nach der Beisetzung des Verstorbenen. Nachdem alle organisatorischen Aufgaben erledigt sind, kommt der Trauernde zur Ruhe und wird sich seiner Gefühle bewusst. Es kann zu heftigen Gefühlsausbrüchen kommen. Dabei geht es nicht immer um Trauer und Schmerz, es kommen auch Wut über den Tod oder Dankbarkeit für die gemeinsame Zeit auf. In dieser Phase sollte man seinen Gefühlen freien Lauf lassen. Nur wer seine Gefühle akzeptiert, kann die Trauer bewältigen. Auch Schuldgefühle und Gewissensbisse in Bezug auf die letzten Lebenstage des Verstorbenen kommen vor. Man wirft sich vor, zu wenig getan zu haben, zu selten vorbei geschaut zu haben. In dieser Phase stellt sich oft die Frage nach dem „Warum?“.
Tränen und Gefühle zu unterdrücken und zurück zu halten ist nicht hilfreich. Unterdrückte Trauer kommt häufig Monate oder Jahre später wieder zum Vorschein. Der Trauer-Prozess wurde also nur auf einen anderen Zeitpunkt verschoben.
Für Beistehende ist es wichtig, alle Gefühle und Gefühlsausbrüche zuzulassen. Auch Wutanfälle gehören dazu. Von diesen Gefühlen sollte nicht abgelenkt werden, jedes Problem darf zur Ansprache kommen. Hier ist es wichtig, dass Sie vor allem als Zuhörer agieren, ohne viele Fragen zu stellen. Das Schreiben eines Tagebuches kann dem Trauernden helfen, die Gefühle mitzuteilen und zuzulassen. Kleine Spaziergänge sorgen für kurze Ablenkung und einen klaren Kopf.
Phase 3: Suchen und Sich-Trennen
Nach jedem erlebten Verlust reagieren wir mit einer Suche. Wir suchen nach Erinnerungen an den Verstorbenen, wir suchen gemeinsam aufgesuchte Plätze, wir suchen nach Spuren, die der verlorene Mensch hinterlassen hat. Das Erinnern an gemeinsame Erlebnisse kann dabei helfen die Trauer zu verarbeiten. Durch die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit entsteht oft ein tief empfundenes Gefühl der Nähe und der Begegnung mit dem verstorbenen Menschen. Das ist zwar schmerzhaft, aber für den Betroffenen auch sehr schön zugleich.
Im Verlauf der dritten Trauerphase kommt irgendwann der Punkt, an dem der Trauernde nicht mehr in seiner Situation verharren möchte und wieder aktiv werden will. Durch das Wiederfinden des Toten in Gegenständen, Erinnerungen und Orten, kann man sich langsam von ihm lösen und ihm einen Platz in seinem Inneren einräumen, an dem es ok ist um ihn zu trauern. Die Trauer-Gefühle beherrschen nun nicht mehr ständig die Gedanken und den Alltag. Diese Phase kann mehrere Jahre dauern. Verläuft sie nicht erfolgreich, kommen oft suizidale Gedanken auf.
Wer einem Betroffenen durch die Trauer helfen möchte, muss sich an diesem Punkt alle alten Geschichten anhören, egal wie oft sie schon erzählt wurden. Das erfordert Geduld. Man sollte nicht darauf drängen, dass der Trauernde den Verlust endlich akzeptieren soll. Kommt es zu leichten Ansätzen der Neuorientierung, sollten diese sanft und nicht aggressiv oder fordernd unterstützt werden.
Phase 4: Neuer Selbst- und Weltbezug
Nach und nach kehrt innere Ruhe und ein völlig neues Gleichgewicht im Alltag ein. Der Tote hat seinen Raum im Inneren bekommen und langsam geht das Leben weiter. Dem Trauernden wird bewusst, dass er für seine Zukunft selbst verantwortlich ist und sie aktiv nach den eigenen Wünschen gestalten kann. Dabei bleibt der Verstorbene Teil des Lebens, auch wenn es sich verändert.
Ein neues Hobby, ein neuer Job oder auch eine neue Wohnung können für einen Neuanfang stehen und bei der Umsetzung der Selbstverwirklichung helfen. Für den Trauer-Begleiter kommt nun der Punkt einzusehen, dass man nicht mehr gebraucht wird. Das veränderte Leben des Trauernden sollte akzeptiert und unterstützt werden. Über den Toten darf trotzdem gerne gesprochen werden. In dieser Phase erinnert man sich gerne an die gemeinsame Zeit zurück.
Nicht jeder trauert gleich
Jeder Mensch trauert auf seine eigene Weise. Manche Personen haben sich nach einigen Wochen wieder im Griff und können Arbeiten und ihr Leben führen. Andere Fallen in ein tiefes Loch, aus dem sie von alleine nicht mehr heraus kommen. Für starke Formen der Trauer gibt es Vereine, die die Trauer belgeiten. Auch das Besuchen einer Selbsthilfegruppe kann helfen. Hier trifft man auf andere Personen, die den unendlichen Schmerz nachempfinden können, weil sie ähnliches erlebt haben.
Ein vernünftiger Abschied vom Verstorbenen – etwa bei einer Beerdigung oder Zuhause bei der aufgebahrten Leiche – kann dabei helfen den Trauerprozess zu beginnen. Für viele Trauernde ist es wichtig, einen Ansprechpartner zu haben, dem man sich jederzeit öffnen kann. Das muss kein Familienmitglied sein. Vor allem bei Teenagern und jungen Erwachsenen ist das oft der Freund oder die Freundin. Das muss die Familie akzeptieren.
Zeit zum Trauern einräumen
Auch wenn das Leben vermeintlich wieder seinen normalen Gang geht ist es wichtig, sich Zeit zum Trauern zuzugestehen. Man kann jeden Tag eine Kerze anzünden um an den Toten zu gedenken, regelmäßig alte Bilder, Briefe oder Erinnerungsstücke ansehen und auch einfach einmal traurig sein und weinen. Man sollte nicht versuchen die Traurigkeit mit viel Arbeit, Alkohol oder blindem Aktionismus zu übertönen - egal in welcher Phase man sich befindet.
Dabei muss der Tote nicht auf ein Podest gehoben werden. Es darf auch über schlechte Seiten gesprochen werden. So kann der Verstorbene mit all seinen liebenswerten Ecken und Kanten im Gedächtnis bleiben.
Von Juli 2014 bis März 2018 arbeitete Lisa Vogel als Werkstudentin in der Redaktion bei apomio.de und unterstützt das Team nun als freie Autorin. Sie hat ein Studium im Fach Ressortjournalismus mit dem Schwerpunkt Biowissenschaften und Medizin an der Hochschule Ansbach mit dem Bachelor of Arts abgeschlossen. Hier erlangte sie sowohl journalistische als auch medizinische Kenntnisse. Derzeit vertieft sie ihre medialen Kenntnisse im Master Studium Multimediale Information und Kommunikation.