Der Arztbesuch als Horrortrip: Iatrophobie und wie man sie überwindet
Svenja K. macht immer wieder der Magen zu schaffen, sie leidet schon seit Jahren häufig unter Schmerzen im Oberbauch, Appetitlosigkeit, Übelkeit und Sodbrennen. In der Apotheke hat sie schon ein Vermögen für frei verkäufliche Magenmedikamente gelassen; dort hat man ihr auch schon mehrmals geraten, doch endlich mal zum Arzt zu gehen, um die Ursache für ihre Symptome abklären zu lassen. Und sie weiß ja auch selbst, dass sie sich untersuchen lassen müsste – schließlich könnte ja auch etwas Ernsthaftes hinter ihren ständigen Magenproblemen stecken. Doch einen Allgemeinarzt oder Internisten aufzusuchen – nein, das bringt sie beim besten Willen nicht fertig. Schon beim Gedanken daran zittern ihr die Knie. Lieber lebt sie weiter mit ihren Beschwerden, die sie nicht nur körperlich quälen, sondern auch zunehmend besorgt und unglücklich machen. Svenja K. leidet nicht nur unter Magenproblemen, sondern auch unter einem psychischen Leiden: Iatrophobie. Das heißt, sie hat eine krankhafte Angst davor, zum Arzt zu gehen. Der Begriff setzt sich aus zwei altgriechischen Wörtern zusammen: iatros = Arzt, phóbos = Furcht. Viele Betroffene, die sich mit ihrem eigenen Leiden auseinandersetzen, sprechen salopp auch von „Kittelpanik“. Unter den Iatrophobikern finden sich übrigens mehr Männer als Frauen. Und sehr vielen Betroffenen ist gar nicht klar, dass ihre merkwürdige Panik einen Namen hat und gut behandelt werden kann. Was auch Svenja K. vielleicht (noch) nicht weiß, ist, dass sie ihre Phobie mit rund zwei Millionen anderen Menschen in Deutschland teilt – das hat eine aktuelle Erhebung des Berufsverbandes der Allgemeinärzte ergeben. Bei den Betroffenen macht sich ihre Panik vor der Begegnung mit einem Arzt durch eines oder mehrere der typischen Symptome bemerkbar: Panikattacken mit Herzrasen, Zittern und Schweißausbrüchen schon beim Gedanken an einen bevorstehenden Praxisbesuch, Übelkeit bis zum Erbrechen im Vorfeld eines Termins beim Arzt. Dabei kann die Angst vor der Untersuchung oder Behandlung im Vordergrund stehen, aber auch Panik vor möglichen Begleiterscheinungen wie Spritzen, Blut oder einer schlimmen Diagnose.
Die Angst erzeugt Vermeidung - Vermeidung steigert die Angst
Entsprechend ist das Verhalten, das aus solchen Symptomen folgt: Kontrolluntersuchungen werden ebenso vermieden oder hinausgezögert wie eigentlich notwendige Behandlungen von akuten Beschwerden. Das führt unweigerlich in einen Teufelskreis: Krankheiten werden womöglich verschleppt, die Symptome verschlimmern sich, die Behandlung wird schwieriger und aufwändiger. Das vergrößert wiederum die Angst, das Vermeidungsverhalten hält weiter an. Im schlimmsten Fall geraten Betroffene in lebensbedrohliche Situationen, wenn eine schwere Krankheit bei ihnen nicht rechtzeitig erkannt werden konnte. Ist ein Erscheinen in der Praxis oder im Krankenhaus tatsächlich unumgänglich, so ist die Behandlung oder Untersuchung des Patienten oft nur mit einem Beruhigungsmittel oder einer Narkose möglich. Daneben werden häufig die Beschwerden gegenüber dem Arzt heruntergespielt; sehr bekannt ist außerdem das sogenannte „Weißkittel-Syndrom“: Dabei beeinflusst der Stress eines Arztbesuches sogar den Blutdruck. In der Praxis gemessen, ist der Wert deutlich erhöht – misst man den Blutdruck danach noch einmal zuhause, ist er wieder im ganz normalen Bereich.
Angst vor dem Zahnarzt – manchmal alles andere als „normal“
Neben Chirurgen und Gynäkologen sind es vor allem Zahnärzte, die Iatrophobikern größte Angst einjagen. Untersuchungen belegen, dass fast jeder fünfte Deutsche deutliche Angst vor dem nächsten Zahnarzttermin hat. Man geht davon aus, dass es sich bei mindestens der Hälfte davon um ausgeprägte Zahnarztphobiker handelt – die mit teils massiven Folgen leben müssen: Für sie gilt es nicht nur, mitunter heftige Zahnschmerzen länger als nötig zu ertragen. Oft werden die Zähne schadhaft oder fallen aus, Mundgeruch tritt auf. Dann wird die Scham immer größer, viele lachen kaum noch, um ihre Zähne zu verbergen und ziehen sich zunehmend zurück, entwickeln manchmal sogar ausgeprägte soziale Störungen, also weitere Phobien. Außerdem können nicht behandelte Entzündungen im Mundraum chronische Schmerzen im Kiefer- und Kopfbereich verursachen und nicht selten sogar für Herzinfarkte mitverantwortlich sein.
Nicht jede „Weißkittel-Panik“ ist krankhaft
Die Panik der Betroffenen geht weit über das „mulmige Gefühl“ hinaus, das die meisten Menschen spätestens angesichts des Zahnarztstuhls und des davor aufgereihten „Bestecks“ überkommt. Erscheint ein Panikpatient mit akuten Schmerzen in der Zahnarztpraxis, ist es häufig extrem schwierig, den Gequälten in seiner Angst überhaupt behandeln zu können. Allerdings zeigen sich inzwischen vor allem Zahnärzte deutlich sensibilisiert für die Nöte ihrer Panikpatienten. Es gibt immer mehr Zahnärzte, die eine Behandlung speziell für diese Personengruppe anbieten: Die Methoden reichen von Hypnose und Meditation über die Anwendung von Lachgas und Akupunktur bis hin zur Vollnarkose. Außerdem sind diese Zahnärzte meist extra geschult für den Umgang mit panischen Menschen; sie sind entsprechend einfühlsam, respektieren den Menschen, der da vor ihnen auf dem Stuhl zittert, und nehmen seine Panik sehr ernst. Wichtig ist es, die weitgehend „normale“ Angst vor Arztbesuchen von einer Iatrophobie zu unterscheiden. Vor allem wenn es um besonders unangenehme Dinge wie z.B. Magen- oder Darmspiegelungen, Abstriche im Hals, gynäkologische Untersuchungen und Wurzelbehandlungen geht oder um den Verdacht auf eine schwere Erkrankung, fühlen sich viele im Vorfeld des Arzttermins gar nicht gut. Zittern, Schweißausbrüche und Panikgefühle können da durchaus auftreten. Eine echte Phobie liegt allerdings erst dann vor, wenn es der oder die Betroffene beim besten Willen und wider jegliche Vernunft einfach nicht mehr (oder nur mit den oben beschriebenen schlimmen Symptomen) zum Arzt schafft.
Woher kommt die Angst - und wie kann man ihr vorbeugen?
Experten glauben, dass die Ursachen für eine ausgeprägte Iatrophobie meist in der Kindheit der Betroffenen zu finden sind. Viele Phobiker berichten von entsprechenden traumatischen, nicht aufgearbeiteten Erfahrungen in der Vergangenheit. Manche mussten etwa erleben, dass nahe Verwandte wegen eines Behandlungsfehlers starben, andere waren als Kinder selbst krank und lagen zum Teil lange Zeit im Krankenhaus; fehlte dann eine vertraute Person an der Seite, fühlten sie sich ausgeliefert und hilflos, sodass sich diese Angst machende Situation fest ins Gedächtnis einbrannte. Auch erst später im Leben können ungute Erlebnisse mit unsensiblen Ärzten, große Schmerzen bei Behandlungen und Untersuchungen oder auch die Scham wegen des eigenen Körpers, vielleicht wegen starken Übergewichts, Ausschlägen oder Entstellungen, den Grundstein für eine Iatrophobie legen. Mediziner und Psychologen weisen darauf hin, dass es gerade bei Kindern wichtig ist, deren erste Arztbesuche so angenehm wie möglich zu gestalten, um eine spätere Arzt-Panik gar nicht erst entstehen zu lassen. Gerade Kinderärzte achten sehr darauf, während erster Untersuchungen etwa keine Instrumente zu benutzen, die in irgendeiner Form Angst machen könnten oder wehtun. Auch sollten Eltern ihr Kind möglichst nicht erst dann zum Arzt bringen, wenn es krank und damit geschwächt und besonders dünnhäutig ist, sondern schon in gesundem Zustand. Dann kann es sich in Ruhe mit dem Doktor und der Praxisumgebung „anfreunden“ und wird beim nächsten Mal wahrscheinlich schon viel weniger verschreckt in die Sprechstunde kommen. Sehr empfehlenswert sind außerdem spezialisierte Kinderzahnärzte – sie sind nicht nur gesondert auf die Behandlung von ersten Zähnen geschult, sondern auch darauf, mitunter sehr ängstliche Kinder zu behandeln und ihnen früh ein vertrauensvolles Verhältnis zum Zahnarzt zu vermitteln. Das zahlt sich in jeder Hinsicht aus – nicht nur als Grundstein für die lebenslange Zahngesundheit, sondern auch als Basis für spätere angstfreie Zahnarztbesuche!
Und wenn es für Angstprävention schon zu spät ist?
Hat sich die Angst vor dem Arzt erst einmal tief in einem Menschen festgesetzt, hilft in den meisten Fällen nur noch eine Psychotherapie. Mit guten Aussichten: Den meisten Phobikern kann eine Verhaltens- oder Konfrontationstherapie – die in diesen Fällen angezeigte Form der Psychotherapie – ihre Panik zumindest soweit eindämmen, dass sie künftig ohne größere Probleme einen Arzt aufsuchen können. Allerdings liegt es tragischerweise in der Natur der Sache, dass Menschen mit Panik vor dem Arztbesuch sich sehr schwer tun, zum Psychotherapeuten zu gehen, denn auch in ihm sehen sie ja schließlich einen Arzt. Es braucht dann häufig Unterstützung von einem nahen Menschen, bis sich ein Betroffener entschließt, diesen Schritt zu gehen. In der Behandlung begleiten die Therapeuten ihre Patienten oft bei Arztbesuchen, ihre Gegenwart sowie Entspannungs- und andere Übungen helfen bei der Bewältigung der aufkommenden unangenehmen Gefühle. Es wird behutsam eingeübt, sich Schritt für Schritt den Ängsten zu stellen – und dabei wiederholt zu erleben, dass einen die Angst nicht umbringt oder einen in Ohnmacht fallen lässt, sondern im Gegenteil immer kleiner wird, sobald man ihr nicht mehr aus dem Weg geht. Gleichzeitig werden die eigenen Befürchtungen in der akuten Situation immer wieder überprüft: Schmerzt diese Behandlung tatsächlich so sehr? Verstärkt diese Untersuchung mein Herzrasen tatsächlich, oder wird es sogar noch während der Behandlung ein wenig besser? Natürlich sollten im Rahmen dieser „Übungseinheiten“ ausschließlich behutsame und sensible Ärzte aufgesucht werden; ein Mediziner ohne Empathie könnte leicht einen Rückfall in die altbekannte Panik auslösen.
Angstfrei zum Arzt? Das ist möglich!
Wichtig ist vor allem, dass sich Menschen, die unter Iatrophobie leiden, ihres Leidens weder schämen noch es vor anderen dauerhaft verheimlichen. Sie sollten immer daran denken, dass es hierzulande rund zwei Millionen Menschen geht wie ihnen. In Selbsthilfegruppen und Foren im Internet kann man Leidensgenossen treffen, sich austauschen und gegenseitig Zuspruch geben. Viele Therapeuten bieten Hilfe bei diesem speziellen Problem an. Und nicht zuletzt werden sich auch immer mehr Ärzte darüber bewusst, dass nicht wenige Patienten ihre Sensibilität und Behutsamkeit ganz besonders brauchen. Also: Nur Mut auf dem Weg zum angstfreien Arztbesuch!
Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.