Die Minamata-Krankheit: Quecksilbervergiftung mit weitreichenden Folgen
Eine der größten Umweltkatastrophen unserer Zeit spielte sich viele Jahre lang gänzlich unbemerkt im Süden Japans ab: In der Bucht von Minamata, direkt bei einem kleinen gleichnamigen Fischerdorf, verklappte eine japanische Chemiefabrik ab den 1930er-Jahren bis ins Jahr 1968 Hunderte von Tonnen Methylquecksilber. Der hochgiftige Stoff entstand als Nebenprodukt bei der Herstellung von Acetaldehyd; das damit verseuchte Abwasser leitete das Unternehmen ungefiltert in die Meeresbucht. Dort sammelte sich das Quecksilber in Meerestieren an – und fand über den in der Bucht gefangenen Fisch schnell seinen Weg in den Körper der dort ansässigen Menschen. Das Gift machte Tausende von ihnen krank und tötete viele weitere. Denn Quecksilber richtet im menschlichen Organismus, vor allem im zentralen Nervensystem und der Muskulatur, schwere und irreparable Schäden an, führt zu schwersten Krankheitssymptomen und häufig zum Tod.
Inhaltsverzeichnis
- Die Verantwortlichen duckten sich weg
- Minamata-Opfer: geächtet und diskriminiert
- Das „Minamata-Abkommen“ schafft nur bedingt Abhilfe
- Quecksilber auch in deutschen Deponien
Seit den ersten Fällen in Japan tragen bis heute alle organischen Quecksilbervergiftungen die Bezeichnung „Minamata-Krankheit“. Sie wurde später auch in anderen Regionen der Welt festgestellt. Bei den Einwohnern von Minamata zeigten sich die schrecklichen Symptome erstmals um 1960. Immer mehr Menschen konnten Hände und Füße nicht mehr normal bewegen, ihre Gliedmaßen spreizten sich in unnatürlicher Weise, es traten Zuckungen, starkes Zittern und komplette Lähmungen auf, dazu Sprech- und Sehstörungen, auffällige Verhaltensänderungen bis hin zu Psychosen. Zahlreiche schwer missgebildete Kinder kamen zur Welt, und immer mehr Betroffene starben an der zunächst rätselhaften Krankheit. Laut einem Bericht des Magazins „Stern“ waren zuvor Katzen aufgefallen, die, von Krämpfen geschüttelt, im Meer ertranken; Fische waren völlig verwirrt im Wasser herumgeschwommen, man konnte sie mit den Händen einfangen und sie schmeckten den Bewohnern des Ortes „sehr gut“. Eine 1951 geborene Frau aus Minamata erzählt, dass ihr Vater „zitternd und weinend in seinem Bett verstarb“, nachdem ihre Mutter ihn mit frischem Fisch aus der Bucht wieder zu Kräften bringen wollte.1
Die Verantwortlichen duckten sich weg
Nach und nach fanden die zunächst ratlosen Mediziner heraus, dass alle Patienten Fisch gegessen hatten, der mit Schwermetall belastet war. Der Zusammenhang mit dem großen Chemiewerk vor Ort drängte sich schnell auf, da die Fabrik Quecksilbersulfat als Katalysator zur Herstellung von Acetaldehyd, einem wichtigen Ausgangsstoff in der chemischen Industrie, nutzte. Den sich schließlich bestätigenden Verdacht, dass das bei der Produktion entstehende hochgiftige Methylquecksilber einfach als Abwasser in die benachbarte Bucht geleitet wurde, wies das Unternehmen jahrelang weit von sich. Und auch die Regierung sprach jahrelang nur von einer „Lebensmittelvergiftung“ und blockierte die Aufklärung.
Wie der „Stern“ in seinem Bericht ausführt, sollte es nach dem Auftreten der ersten Krankheitsfälle 1956 noch viele Jahre dauern, bis das Rätsel der Kranken und Toten von Minamata gelöst war. Mehrere Untersuchungen und Studien wiesen alle auf dieselbe Ursache hin. Ein Werksarzt des Chemieunternehmens unternahm eigene Experimente mit Katzen; diese wiesen eindeutig darauf hin, dass das aus der Fabrik geleitete Abwasser schwere Schädigungen verursachte. Als der Arzt dies an die Unternehmensleitung weiterleitete, wurde ihm Stillschweigen befohlen. Erst als es in der Nähe einer weiteren Chemiefabrik zu ganz ähnlichen Fällen kam, wurde endlich die japanische Regierung aktiv. Schließlich stand fest und wurde 1968 auch von der Regierung anerkannt: Das Methylquecksilber aus den Fabriken hatte die vielen Menschen krank gemacht und getötet. Das schuldige Unternehmen übernahm jedoch erst weitere Jahre später offiziell die Verantwortung für die Erkrankungen.1
Minamata-Opfer: geächtet und diskriminiert
Schätzungen zufolge wurden zehntausende Menschen in Minamata geschädigt, Tausende starben. Besonders tragisch ist, dass die Betroffenen nicht nur mit den physischen Folgen ihrer Krankheit kämpfen mussten, sondern auch noch mit gesellschaftlicher Diskriminierung. Sie wurden ausgegrenzt, da viele Einwohner – bis zur Anerkennung des wahren Auslösers der Krankheit – befürchteten, sich bei den Erkrankten anzustecken. Zumal war seinerzeit die Chemiefabrik von Minamata der größte Arbeitgeber und Steuerzahler der Stadt. Somit führten die ersten Erkrankungen zu einer Spaltung in der Bevölkerung: Die Anhänger und Angestellten des Unternehmens stritten eine mögliche Schuld des Chemieunternehmens vehement ab und stellten sich damit gegen die Opfer, die erbittert gegen die Chemiefabrik demonstrierten.
Es kam zu massiven Unruhen; wie aufgeheizt die Stimmung war, beweist auch die Geschichte des Fotojournalisten Eugene W. Smith, der 1971 nach Minamata kam und die Umweltkatastrophe und ihre Opfer dokumentierte. Berühmt wurde sein Foto eines verkrüppelten 15-jährigen Mädchens. Entsprechend unbeliebt machte sich der Fotograf bei den Beschäftigten des Chemiewerks, die Smith bei einer körperlichen Attacke so schwer verletzten, dass er noch Jahre später unter stärksten Schmerzen zu leiden hatte.2
Die Welt scheint aus Minimata lernen zu wollen. Dem Quecksilber wurde der Kampf angesagt. Damit es nicht immer wieder neue Opfer in solch hoher Anzahl fordert, wurde im Jahre 2013 – nach zähen Verhandlungen – ein internationales Abkommen der Vereinten Nationen geschlossen, das seit rund drei Jahren in Kraft ist und ebenfalls den Namen des so dramatisch betroffenen japanischen Ortes trägt. Das „Minimata-Abkommen“ wurde von weit über 100 Staaten ratifiziert, trat 2017 auch in Deutschland in Kraft und wird hier auf der Grundlage einer seit 2018 geltenden EU-Quecksilber-Verordnung umgesetzt. Laut Abkommen setzen sich die beteiligten Länder zum Ziel, Quecksilberemissionen in die Umwelt zu vermeiden oder zu vermindern und kontaminierte Standorte umweltgerecht zu behandeln.3
Das „Minamata-Abkommen“ schafft nur bedingt Abhilfe
Mit dem Abkommen wurde, wie der damalige Leiter des UN-Umweltprogramms (UNEP) in einem Bericht der „Welt“4 zitiert wurde, eine „Grundlage für ein globales Vorgehen gegen einen Schadstoff gelegt, dessen Gefährlichkeit seit mehr als einem Jahrhundert bekannt ist.” Dem Artikel zufolge zählt Quecksilber „zu den gefährlichsten Giftstoffen überhaupt“; Forscher schätzen, dass die Umwelt in den vergangenen 170 Jahren mit mehr als 200.000 Tonnen Quecksilber belastet wurde. Heute gelten in EU und USA strenge Richtlinien für den Umgang mit dem Giftstoff, nicht jedoch in vielen afrikanischen, asiatischen und südamerikanischen Ländern und Regionen. Hier verursachen vor allem Goldbergbau, großteils durch schwer kontrollierbare Kleinunternehmen, und Kohleverbrennung enorm hohe Quecksilberemissionen – daran wird auch das Minamata-Abkommen in absehbarer Zeit nichts ändern. Deshalb ist der Stoff nach wie vor ein globales Problem. „Quecksilber verteilt sich großräumig um die Erde”, erläutert im „Welt“-Bericht der Meeres-Chemiker Joachim Kuß. Daher nütze es nichts, „nur vor der eigenen Haustür alles ordentlich zu haben.“
Das natürliche Quecksilber gelangt zum Teil durch Vorgänge wie Bodenerosion, Waldbrände oder Vulkanausbrüche aus geologischen Formationen in die Atmosphäre. Zu einem Großteil ist es jedoch der Mensch, vor allem in Asien, aber auch in mehreren weiteren Entwicklungs- und Schwellenländern, der den giftigen Stoff in die Luft bläst. Das geschieht z.B. durch Verbrennung von Kohle in Kraftwerken und insbesondere durch den Goldbergbau. Weil in Afrika und Südamerika sehr viel kleingewerblicher Goldabbau betrieben wird und dort – anders als bei Anlagen der Großindustrie – die Emissionen kaum kontrolliert werden können, wächst der Quecksilber-Ausstoß in von uns weit entfernten Teilen der Welt noch stark an. Zudem schuften laut „Welt“ schätzungsweise 10 bis 15 Millionen Goldschürfer in Kleinbestrieben ohne jeglichen Schutz – und vergiften sich durch den direkten Kontakt mit Quecksilber massenhaft.
Quecksilber auch in deutschen Deponien
Das in die Atmosphäre entwichene Quecksilber verbleibt dort etwa zwölf Monate, verteilt sich rund um die Erde und geht mit vielen weiteren Stoffen in der Luft Verbindungen ein, die sich dann wiederum als Schadstoffe im Meer und im Boden ablagern – und dort schließlich auch in weitere giftige Quecksilberformen umgewandelt werden können, die dann schließlich auch im menschlichen Körper landen. Zum Beispiel über importierten kontaminierten Fisch, der auch auf deutschen Tellern landet.
Das heißt: Quecksilber ist auch unser Problem. Interessant auch für Deutschland ist, dass im Zuge des Abkommens große Mengen freiwerdenden Quecksilbers aus fernen Ländern in die Industrieländer gebracht werden und dort für immer eingelagert werden sollen. Bereits jetzt leben Menschen in Deutschland auf unterirdischen Deponien, die auch Quecksilber beherbergen, etwa im stillgelegten Schacht Herfa-Neurode in Osthessen. Das behagt bei weitem nicht allen, und auch nicht alle sind überzeugt, dass die Lagerung für immer sicher sein wird.5
Doch all das dürfte die wenigen bis heute überlebenden Opfer von Minamata kaum interessieren. Laut einem Fotobericht des „Spiegel“ lebt heute nur noch ein kleiner Teil der ca. 3000 anerkannten Minamata-Opfer. Sehr viele versuchen immer noch nachzuweisen, dass auch sie vergiftet wurden. Von den Tausenden, die eine Anerkennung als Geschädigte beantragt haben, waren die wenigsten erfolgreich.6 Wie die „ÄrzteZeitung“ schreibt2, erhielten zwar mehr als 60.000 Angehörige im Jahr 2009 eine finanzielle Entschädigung. Das dürfte aber bei weitem nicht geeignet sein, das Unrecht auch nur im Ansatz wieder gut zu machen. Der Fall bleibt bis heute aktuell – die Schande von Minamata.
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Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.