Molekulare Landkarte kindlicher Krebserkrankungen: wie Forscher die Chancen verbessern wollen!
Die Diagnose „Krebs“ ist für jeden Betroffenen ein herber Schicksalsschlag, der meist eine tiefe Zäsur im Leben markiert. Besonders groß sind der Schock und die Fassungslosigkeit, wenn ein Kind oder ein Jugendlicher die schlimme Diagnose erhält. Das ist glücklicherweise nur selten der Fall: Krebserkrankungen machen, wie u.a. in einem Bericht des Magazins „Focus“ bestätigt wird, insgesamt nur 1 Prozent aller Erkrankungen in dieser Altersgruppe aus.
Jedoch ist es auch eine traurige Wahrheit, dass Krebs die am häufigsten auftretende tödliche Krankheit bei Kindern und Jugendlichen ist und – nach Unfällen – die zweithäufigste Todesursache im Kindes- und Jugendalter.1
Wie sehen die Zahlen und Überlebensrate aus?
Laut dem Jahresbericht 2018 des Deutschen Kinderkrebsregisters DKKR wurden in den Jahren 2008 bis 2017 durchschnittlich rund 1770 Erkrankungen bei unter 15-Jährigen pro Jahr bekannt, 795 davon betrafen kleine Patienten unter fünf Jahren. Die Überlebensrate ist hoch: Je nach Krebsart überleben bis zu 90 Prozent die Krankheit mindestens 15 Jahre. Doch sind pro Jahr immer noch mehr als 400 Todesfälle innerhalb von 15 Jahren nach Diagnose zu verzeichnen.2 Wie in einem Artikel des „Ärzteblatt“ berichtet wird, ist laut dem 2017er-Bericht des Robert-Koch-Instituts (RKI) zum Krebsgeschehen in Deutschland etwa jeder fünfte Todesfall im Kindesalter auf eine Krebserkrankung zurückzuführen.3
Angesichts solcher Zahlen ist es nur verständlich, dass Forscher weltweit fieberhaft nach neuen Diagnose- und Therapiemöglichkeiten suchen, um kindlichen Krebs besser erkennen und behandeln zu können. Ein wichtiger Schritt hierbei – und eine große Hoffnung für alle Betroffenen – stellt die besonders detaillierte molekulare „Landkarte" kindlicher Krebserkrankungen dar, die Wissenschaftler unter der Federführung des „KiTZ“, also des Hopp-Kindertumorzentrums am Nationalen Centrum für Tumorerkrankungen (NCT) Heidelberg gezeichnet haben.
Renommierte Forscher arbeiten bundesweit zusammen
Unter der Leitung von Professor Stefan Pfister, Direktor des Präklinischen Programms am KiTZ, Abteilungsleiter am Deutschen Krebsforschungszentrum (DKFZ) und Oberarzt am Universitätsklinikum Heidelberg, hat das Forscherteam des KiTZ in Zusammenarbeit mit Wissenschaftlern des Deutschen Krebskonsortiums (DKTK) und der Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH) rund 1000 Tumorproben von 24 Kinderkrebsarten nach genetischen Veränderungen durchsucht, ihre molekularen Eigenschaften charakterisiert und die Veränderungen klassifiziert. Die Analyseergebnisse dienen als Grundlage für die Anwendung neuer Therapieformen bei krebskranken Kindern.
Bei den Forschern handelt es sich um Mitarbeiter von Einrichtungen, die zu den renommiertesten in Deutschland zählen: Das Hopp-Kindertumorzentrum am NCT Heidelberg (KiTZ) ist eine gemeinsame Einrichtung des Universitätsklinikums Heidelberg und des Deutschen Krebsforschungszentrums. Das DKFZ ist wiederum Kernzentrum des Deutschen Konsortiums für Translationale Krebsforschung, kurz DKTK. Es wurde vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) zur Bekämpfung von Krebs als einer der wichtigsten Volkskrankheiten eingerichtet.
In ihm arbeiten Forscher aus mehr als 20 universitären und außeruniversitären Einrichtungen, darunter einige der stärksten Krebsforschungs- und Krebstherapiezentren Deutschlands, an wirksamen Waffen gegen den Krebs. Die Gesellschaft für pädiatrische Onkologie und Hämatologie gibt u.a. das Informationsportal www.kinderkrebsinfo.de heraus. In der GPOH arbeiten Ärzte, Wissenschaftler, Pflegende, Psychologen und andere Fachkräfte interdisziplinär an der Erforschung, Diagnose, Behandlung und Nachsorge von bösartigen kindlichen Krebs- und Blutkrankheiten.
Bei ihrer bislang umfänglichsten molekularen Analyse kindlicher Tumortypen fanden die beteiligten Wissenschaftler in der Hälfte aller untersuchten Proben Angriffspunkte für neuartige Krebsmedikamente, die bislang für die Krebsbehandlung von Kindern noch nicht zu Verfügung stehen. Somit handelt es sich um zurecht hoffnungsvolle neue Ansätze in der Therapie von krebskranken Kindern.
Der Hintergrund
Auch wenn heute etwa 80 bis 90 Prozent aller an Krebs erkrankten Kinder dauerhaft geheilt werden können, kehrt bei etwa einem Viertel der einmal Erkrankten nach vorübergehender Heilung der Krebs zurück – besonders bitter für ein Kind, das bereits eine Strahlen- oder Chemotherapie über sich ergehen lassen musste. Für solche Fälle gibt es bereits eine Vielzahl an neuen, speziellen Medikamente und Therapien, die gezielt – an den individuellen Fall angepasst – an Mutationen im Erbgut des Tumors ansetzen oder bei bestimmten Mutationsformen besonders gut wirken. Das Problem: nur sehr wenige davon wurden bislang an Kindern geprüft, sodass sie auch bei kleinen Patienten angewendet werden dürfen; die meisten sind lediglich für die Behandlung Erwachsener zugelassen.
Ein zusätzliches Problem für die Entwicklung neuer erfolgversprechender Behandlungen in der Kinderonkologie ist, dass sich Medikamente und Therapien für erwachsene Krebspatienten nicht einfach auf Kinder übertragen lassen. Krebserkrankungen bei Kindern sind in vielerlei Hinsicht anders als diejenigen, von denen Erwachsene betroffen sind.
Nur ein Beispiel: Während neu erkrankte Erwachsene es meistens (zu etwa 90 Prozent) mit bösartigen Karzinomen zu tun haben, treten diese bei Kindern und Jugendlichen höchst selten auf. Anders als bei Erwachsenen, entsteht bei Kindern der Krebs meist aus embryonalen Geweben. Auch lassen sich beim kindlichen Krebs sehr häufig die Ursachen nicht klar benennen, man kennt bislang nur erbliche Auslöser für einen Teil der Kinderkrebserkrankungen.
Medikamente für Erwachsene auch bei Kindern wirksam?
Die neue molekulare „Landkarte“ ist schon deshalb so viel versprechend, weil bisher wegen der eher geringen Anzahl der Erkrankten nur wenige molekulargenetische Analysen durchgeführt werden konnten. „Die molekularen Ursachen von Krebs bei Kindern waren bis vor Kurzem nicht bekannt“, konstatiert Forschungsleiter Stefan Pfister in der Pressemitteilung des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF), das die Arbeit der Wissenschaftler fördert und unterstützt.4
Dabei, so Pfister, könnten viele Medikamente, die bestimmte Genmutationen angreifen und bei Erwachsenen zu Therapieerfolgen geführt hätten, höchstwahrscheinlich auch bei Kindern wirken. Bisher habe man diese Medikamente aber nicht anwenden können, da man ja in vielen Fällen gar nicht wisse, in welchen kindlichen Tumoren die entsprechende Mutation überhaupt vorkomme.
Die Tatsache, dass ein Tumor bei einem Kind im Schnitt insgesamt etwa 15 Mal weniger Mutationen als der eines Erwachsenen aufweist, erleichtert den Forschern die gezielte Suche nach denjenigen Mutationen, die für die Krebsentstehung und -entwicklung entscheidend sind und somit möglicherweise als therapeutische Angriffspunkte benannt werden können. In der umfassenden Analyse haben sich bereits bei etwa der Hälfte der untersuchten Tumoren genetische Veränderungen gezeigt, die möglicherweise solche Angriffspunkte für Krebsmedikamente darstellen.
Somit könnten die Chancen krebskranker Kinder auf Therapien, die auf ihre individuelle Erkrankung zugeschnitten sind, durch die molekulare Landkarte durchaus gestiegen sein. Stefan Pfister: „Für viele dieser Angriffsstellen gibt es bereits in der Erwachsenenonkologie zugelassene Wirkstoffe und damit neue potenzielle Behandlungsmöglichkeiten für die betroffenen Patienten.“ Und das ist noch nicht alles: Laut Pfister und seinen Kollegen könnten die Forschungsergebnisse auch für die Früherkennung und eine gezielte, sinnvolle Vorbeugung wichtige Grundlagen liefern.
Mit ihren Erkenntnissen wollen die Wissenschaftler auch die Pharmaindustrie ins Boot holen und diese motivieren, künftig Krebsmedikamente bei Kindern gezielter zu testen. Die gesetzliche Grundlage dafür besteht schon lange: Seit 2007, mit Einführung der Kinderarzneimittelverordnung, muss jedes Medikament auch bei mindestens einer kinderärztlichen Indikation, also auf ihre Wirksamkeit bei mindestens einer kindlichen Krankheit, getestet werden. Pfister und Kollegen hoffen, dass den Pharmaunternehmen die Ergebnisse der Wissenschaft als wichtiger „Planungsbaustein“ dienen.
Vernetzung, die das Leben vieler Kinder retten könnte
Hoffnung für die Zukunft verspricht auch das neu geschaffene Register der Gesellschaft für Pädiatrische Onkologie und Hämatologie (GPOH), das eigens für die überregionale Zusammenarbeit von Studienzentren geschaffen wurde. Kinderonkologen setzen stark auf dieses Netzwerk, das sich künftig intensiv für die Anliegen der jüngsten Krebspatienten einsetzen will.
Im Register der GPOH soll es, so der Wunsch der Mediziner, vorrangig darum gehen, Patienten aus unterschiedlichsten Regionen des Landes den passenden Studien zuzuordnen, Tumorproben in standardisierter Qualität zu lagern und Medikamente für klinische Studien in alle Welt zu verschicken. Würden solche Strukturen und Konzepte nicht geschaffen, befürchtet Wissenschaftler Stefan Pfister, „brauchen wir ansonsten zehn Jahre für die Beantwortung einer Frage, die wir in zwei Jahren hätten lösen können.“
Bei all den viel versprechenden Ergebnissen und Perspektiven bleibt doch eine kleine Einschränkung bestehen: Es wird sich erst noch zeigen müssen, ob die in der großen Studie gefundenen und in der molekularen „Landkarte“ benannten Angriffsstellen für Krebsmedikamente auch bei jungen Patienten angewendet werden können und wirksam sind. Die notwendige fachliche Vernetzung zumindest ist bereits geknüpft: Alle Datensätze und Analysen hat das DKFZ auf der Web-Plattform www.pedpancan.com zusammengestellt und international zugänglich gemacht.
Quellen und weiterführende Links (Stand 27.06.2019):
1 https://www.focus.de/gesundheit/ratgeber/krebs/news/jugendliche-
ignorieren-symptome-kinder-ueberleben-krebs-eher-als-jugendliche-warum_id_5861294.html
2http://www.kinderkrebsregister.de/typo3temp/secure_
downloads/22605/0/2df4719687ba2596d42
16218a4f4632763b64847/jb2018s.pdf
Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.