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Familientherapie: Wenn das „System Familie“ nicht funktioniert

Kommentar schreiben Aktualisiert am 11. September 2019

Ständig Zank und Streit am Abendbrottisch? Überfordert mit den pubertierenden Kindern? Oder ist es noch viel schlimmer – sind Familienmitglieder drogen- oder alkoholsüchtig, ist es zu sexuellem Missbrauch gekommen? Wenn die Familienburg derart bröckelt oder gar einzustürzen droht, ist guter Rat oft teuer. Eine Familientherapie kann dann helfen, die Fundamente wieder nachhaltig zu stützen. Doch was ist das eigentlich, eine Familientherapie?

 

Bei der Familientherapie handelt es sich um ein psychologisches Verfahren, das alle Familienmitglieder mit einbezieht und die Familie als „soziales System“ sieht. Daher werden bei einer Familientherapie auch sehr häufig die sogenannten „systemischen“ Verfahren angewendet. Seltener werden Familien im Rahmen einer Verhaltenstherapie oder von tiefenpsychologisch (psychoanalytisch) arbeitenden Therapeuten betreut.

 

Der Mensch und sein soziales Umfeld

 

Die Systemische Therapie ist ein wissenschaftlich anerkanntes und weit verbreitetes Psychotherapieverfahren. Vertreter dieser Richtung sehen den Menschen immer als soziales Wesen, das ganz wesentlich von seinem Umfeld und seinen Beziehungen geprägt und ggf. auch beeinträchtigt wird. Geht es dem Menschen nicht gut, entwickelt er psychische Störungen, wird das in erster Linie als Symptom und Ergebnis nicht funktionierender Beziehungen gesehen.

 

Deshalb werden die wichtigsten Personen des sozialen Umfelds – häufig eben die Familienmitglieder – in die therapeutischen Sitzungen mit einbezogen. Dabei werden nicht nur Familien im ursprünglichen Sinn therapiert, sondern sämtliche „familienartige“ Systeme, also beispielsweise alle Arten von Patchwork-Familien, aber auch einzelne Menschen, die mit ihrem Arbeits- oder Wohnumfeld Schwierigkeiten haben.

 

Systemische Therapie kommt bei allen möglichen schwerwiegenden Problemen innerhalb von Familien in Frage, von Suchtproblematiken aller Art bis hin zu tiefen seelischen Problemen, die einen oder mehrere Mitglieder der Familie bereits seit mehreren Generationen belasten. Dazu gehören u.a. auch Familiengeheimnisse, die sich, obwohl nie ausgesprochen, als nicht erklärbare psychische Last ganz deutlich bemerkbar machen können.

 

Bei der systemischen Therapie stellt sich oft heraus, dass Probleme, die scheinbar nur durch ein einzelnes Familienmitglied entstehen oder dieses betreffen, tatsächlich mit der gesamten Familie zu tun haben. „Eine einzelne Person ist nur ein Träger von Symptomen und Teil des Ganzen“, sagt die Nürnberger Familientherapeutin Sabrina Kayser-Laubenstein.

 

Entsprechend ist es die Aufgabe eines Familientherapeuten, verborgene Konflikte des gesamten Familienverbundes aufzudecken. Ein anonymisiertes Beispiel, das der Verband Pro Psychotherapie e.V. auf seinem Internetportal therapie.de veröffentlicht hat:

 

Der achtjährige Jonas leidet unter starken Ängsten, die sich manchmal bis zu Panikzuständen steigern. Er hat Angst davor, alleine zu schlafen (...). Deshalb schläft er meist im Bett der Eltern (...). Auch die Eltern leiden unter der Situation: (...) beide Partner verbringen kaum noch gemeinsam Zeit miteinander.

 

Durch gezielte Fragen der Therapeutin wird den Eltern klar, dass Jonas durch ihr nachgiebiges Verhalten nicht erfährt, dass ihm allein im Dunkeln gar nichts passiert – und seine Angst auf diese Weise aufrechterhalten wird. (...) Im Gespräch stellt sich auch heraus, dass Jonas mehr Angst hat, wenn beide Eltern zuhause sind als wenn der Vater auf Dienstreise außer Haus ist Das gibt der Therapeutin einen ersten Hinweis darauf, dass Jonas‘ Ängste mit Schwierigkeiten in der Beziehung der Eltern zusammenhängen könnten. Im Lauf der Therapie stellt sich heraus, dass (...) es große Probleme in der Partnerschaft gibt.

 

Was passiert in einer familientherapeutischen Sitzung?

 

Jeder Familientherapeut wird sich zunächst eingehend – in einer grundsätzlich empathischen, respektvollen und unparteiischen Haltung jedem einzelnen gegenüber – über die individuelle Situation und emotionale Verfassung jedes Familienmitglieds ein Bild machen.

 

Bei den Gesprächen über das jeweilige Problem darf jeder Beteiligte seine Sicht der Dinge darlegen, alle Bedürfnisse werden gehört und ernstgenommen. Der Therapeut wird vor allem darauf einwirken, dass Vorurteile, Abwertungen und Schuldzuweisungen („Das ist wieder typisch, immer macht sie/er ...“; „Das ist alles deine schuld!“ usw.) unterbleiben und die Beteiligten lernen, sich gegenseitig zu respektieren und die Kommunikation entsprechend zu verbessern.

 

Im Idealfall werden alle mit der Zeit zu einer gegenseitig wertschätzenden Haltung kommen und jedes Familienmitglied als individuelles, gleichberechtigtes Wesen wahrnehmen. Wer es bisher abgelehnt hat, Mitverantwortung für die Situation zu übernehmen, wird behutsam zur Erkenntnis geführt, dass jedes Familienmitglied einen Teil der Verantwortung für die Gesamtproblematik trägt – ebenso wie jeder dazu beitragen kann, dass die Probleme gelöst werden können.

 

Der Therapeut wird also versuchen, bisher geltende (Verhaltens-)Muster durch neue Sichtweisen zu ersetzen. Seine Instrumente dafür sind u.a. spezielle Gesprächstechniken und Fragen, aber auch Maßnahmen wie z.B. die Aufforderung, die Familie als Bild oder Skulptur darzustellen oder sich durch Wechsel der Sitze jeweils in die andere Person hineinzudenken.

 

Dabei arbeiten Familientherapeuten meist ressourcenorientiert, d.h. sie gehen davon aus, dass nicht sie den Klienten die Lösung „präsentieren“, sondern dass die Klienten diese (als eigene Ressourcen) bereits in sich tragen. Der Therapeut hilft lediglich dabei, Lösungsmöglichkeiten zu erkennen, hilfreiches neues Verhalten einzuüben und in den Alltag mitzunehmen. Das gemeinsame Ziel besteht darin, dass die betroffene Familie bzw. das System gemeinsam eine neue und für alle befriedigendere Form des Zusammenlebens entwickelt.

 

Familientherapie oder Familienberatung?

 

Eine Familientherapie ist dann zu empfehlen, wenn es in der Familie Probleme gibt, die sich nicht mehr aus eigener Kraft lösen lassen. Oft suchen Familien diese Form der Hilfe, wenn Kinder gravierende Störungen entwickeln, aber auch, wenn Veränderungen das System ins Wanken bringen, etwa bei Trennungen und Scheidung, neuen Familienkonstellationen (z.B. neue Partner der Eltern) oder nach Todesfällen. 

 

Nicht immer jedoch muss bei entsprechenden Problemen eine komplette Therapie durchgeführt werden. Oft hilft auch schon eine gezielte Familienberatung, die – anders als bei der Therapie, die nur von ausgebildeten Psychotherapeuten angeboten werden darf – meist von Sozialpädagogen oder Erziehern angeboten werden. Einige Organisationen, z.B. die Caritas, das Rote Kreuz, die AWO oder städtische Einrichtungen, bieten sogar kostenlose Familienberatungen an.

 

Dort werden ähnliche Methoden wie bei der Familientherapie angewandt, und natürlich sind auch die Zielsetzungen dieselben. Jedoch stößt eine Familienberatung an ihre Grenzen, wenn die Familie durch sehr schwere und tiefsitzende seelische Probleme in Schwierigkeiten geraten ist. In diesem Fall sollte dann eher ein erfahrender Psychotherapeut aufgesucht werden.

 

Was zu bedenken ist

 

Auch wenn man sich – und das ist für viele ein großer Schritt! – tatsächlich zu einer Familientherapie durchgerungen hat, muss klar sein: Eine Erfolgsgarantie gibt es nicht. Wie bei jeder Form der Psychotherapie braucht es von allen Beteiligten viel Geduld und Bereitschaft zur Mitarbeit, damit sich wirklich positive Veränderungen entwickeln können.

 

Auch wenn nicht immer alle Familienmitglieder bei der Therapie dabei sein müssen, so scheitert doch manche Therapie an der mangelnden Mitwirkung eines Mitglieds oder mehrerer Mitglieder des Systems. Manchmal verschlechtert sich auch die Gesamtsituation erst einmal, bevor es zu Erfolgen kommt, z.B. dadurch, dass erstmals Probleme wirklich auf den Tisch kommen und nicht mehr verdrängt oder verleugnet werden.

 

Wenn eine Familientherapie erfolgreich durchgestanden wurde, so wird dennoch nicht alles wunderbar und störungsfrei ablaufen. Es wird Rückschläge geben, bei denen sich die Familie tatsächlich beweisen kann. Denn gerade Störungen und neue Konflikte bieten die beste Gelegenheit, die in der Therapie erlernten neuen Kommunikations- und Verhaltensmuster anzuwenden. Viele Familien stellen fest, dass sie nach einer Therapie weit besser mit Konflikten umgehen können als zuvor.

 

Anerkannt, wirksam und vergleichsweise kostengünstig

 

Denn auch wenn der Erfolg nicht garantiert werden kann, so ist doch unstrittig (und durch viele Forschungen und Studien bewiesen), dass die Familientherapie ein in vielen Fällen hochwirksames Psychotherapieverfahren ist. Auch die hohe Kundenzufriedenheit und sehr gute Langzeiteffekte sind belegt, vor allem wenn es in der Therapie um schwerere Störungen gegangen ist.1

 

Eine systemische Therapie, die von einem Psychotherapeuten durchgeführt wird, muss von gesetzlich krankenversicherten Klienten grundsätzlich selbst bezahlt werden. Allerdings kann bei der Krankenkasse erfragt werden, welche Zuschüsse es eventuell gibt, vor allem wenn schwerwiegendere Störungen zu behandeln sind. Das systemische Verfahren ist allerdings vielfach deutlich kostengünstiger als andere Therapieformen, weil hier häufig schon mit relativ wenigen Sitzungen gute Erfolge erzielt werden1.

 

Fazit: Nur Mut zur Familientherapie!

 

Viele Familien ringen sich nur schwer zu einer Familienberatung oder gar Familientherapie durch. Denn sie schämen sich dafür, dass sie gravierende Schwierigkeiten haben, und möchten nicht, dass „fremde Menschen“ sich „einmischen“. Doch sind Familienprobleme weit verbreitet – wer kennt sie nicht?

 

Und Probleme zu lösen erfordert oft noch viel mehr Mut und Kraft, als unter ihnen zu leiden – somit kann jeder stolz sein, der den Mut fasst, sich einem Profi anzuvertrauen und damit beweist, dass er die verfahrene Situation aktiv und eigenverantwortlich verbessern möchte. Nur mit einer solchen Eigeninitiative kann eine aus der Balance geratene Familie wieder das werden, was sie sein sollte: ein sicherer Ort des friedlichen, respektvollen Miteinanders.

 

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Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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