Hoffnung am Welt-AIDS-Tag: die Vorsorge-Pille gegen HIV
Der 1. Dezember: seit 1988 kein Tag wie jeder andere. Denn seit genau 30 Jahren wird jedes Jahr zu diesem Datum – jeweils unter einem bestimmten Motto – der Welt-AIDS-Tag begangen. Erstmals von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgerufen und inzwischen vom Gemeinsamen Programm der Vereinten Nationen für HIV/Aids (UNAIDS) organisiert, gehen an diesem Tag die AIDS-Verbände, -Initiativen und -Organisationen auf der ganzen Welt mit Aktionen und Veranstaltungen an die Öffentlichkeit – vor allem um uns alle zu Solidarität mit HIV-Infizierten und AIDS-Kranken aufzurufen. Es geht aber auch darum, die Verantwortlichen aus Gesellschaft, Wirtschaft, Politik und Medien daran zu erinnern, dass AIDS bei allen bereits erreichten Verbesserungen immer noch ein Thema ist, das unser aller Handeln fordert.
Denn AIDS ist noch lange nicht besiegt – auch wenn die Wissenschaft seit der Entdeckung des HIV (Abkürzung für Humanes Immundefizienz-Virus) und dem Bekanntwerden von AIDS in den 1980er-Jahren große Erfolge im Kampf gegen die Krankheit verzeichnen konnte. Lange Jahre lang war die Diagnose „HIV“ ein Todesurteil, weil die Infektion mit Sicherheit zum Ausbruch der Krankheit und meist schließlich zum Tod führte. Heute dagegen gibt es mehr als 20 Wirkstoffe, die – bei relativ geringen Nebenwirkungen – die Vermehrung des Virus im Körper ausbremsen. So können inzwischen die meisten HIV-Infizierten lange und recht gut mit dem Virus leben; zudem besteht heute ein Infektionsschutz durch Therapie. Das heißt, dass ein infizierter Mensch, der Medikamente einnimmt, die die HIV-Vermehrung stabil unterdrücken, andere nicht mehr anstecken kann.
Dennoch: Eine Impfung gegen HIV oder gar eine heilende Therapie zu entwickeln, ist jedoch noch nicht gelungen. Auch wenn es in beide Richtungen vielversprechende Ansätze gibt, wird HIV bzw. AIDS wohl noch lange nicht besiegt sein – und für viele Menschen auf der Welt, die aus unterschiedlichen Gründen keine gute Behandlung bekommen, weiterhin zum Tod führen.
HIV ist beherrschbar, doch nicht besiegt
Aktuell sieht der Stand in Deutschland so aus: Die Zahl der HIV-Infektionen ist leicht gesunken; 2017 infizierten sich etwa 2.700 Menschen neu, 200 weniger als im Vorjahr. Im europäischen Vergleich ist diese Zahl sehr niedrig. Rund 450 Menschen sind 2017 mit oder an HIV gestorben. Insgesamt lebten Ende 2017 schätzungsweise 86.100 Menschen mit HIV in Deutschland. Diese Zahl steigt, da immer weniger Betroffene an den Folgen der Infektion sterben.
Nach wie vor bilden aktiv homosexuelle Männer den überwiegenden Anteil der Infizierten, es sind derzeit etwa 53.000. Vor allem bei ihnen ist die Zahl der Neuinfektionen deutlich zurückgegangen: im Jahr 2013 waren es noch 2.300, vier Jahre später nur noch 1.700. Die wichtigsten Gründe für den verzeichneten Rückgang der Neuinfektionen sind wohl die inzwischen verbreitete gute Aufklärung, die frühzeitige Behandlung direkt nach der Diagnose, mehr Testangebote und die gestiegene Testbereitschaft.
Sorge bereitet in Deutschland allerdings die noch recht hohe Zahl von etwa 11.400 Menschen mit HIV, die gar nicht wissen, dass sie infiziert sind – und somit leicht andere anstecken können. Experten plädieren daher für freiwillige Selbsttests (die seit kurzem in Deutschland rezeptfrei in Apotheken und Drogerien gekauft werden können) und noch leichter zugängliche Testangebote, auch für Menschen ohne Krankenversicherung, damit HIV-Infizierte so frühzeitig wie möglich behandelt werden können und kein Risiko für andere mehr darstellen. Die Deutsche Aids-Hilfe macht darauf aufmerksam, dass Deutschland wegen der noch so hohen Zahl nicht diagnostizierter HIV-Infektionen das Etappenziel der Vereinten Nationen, wonach es ab dem Jahr 2020 überhaupt keine neuen Aids-Fälle mehr geben soll, kaum erreichen könne. Es bestehe daher dringender Handlungsbedarf.
Die Pille, die vor Ansteckung schützt
Große Hoffnung setzen Wissenschaftler und Betroffene auf ein Medikament, das erwiesenermaßen die Ansteckung mit dem Virus verhindern kann, bereits seit 2016 auf dem deutschen Markt zu haben ist, jedoch bislang nicht von den Krankenkassen erstattet wird: Die PrEP-Pille. PrEP ist die Abkürzung für „Prä-Expositions-Prophylaxe“, was auf Deutsch so viel bedeutet wie „Vorsorge vor einem Risiko-Kontakt“. Zahlreiche Studien belegen eine mindestens 85-prozentige Wirksamkeit der Pille und sogar einen hundertprozentigen Schutz bei absolut verlässlicher Einnahme. Dann ist die Schutzwirkung der PrEP der von Kondomen und dem Schutz durch HIV-Therapie vergleichbar.
Bei der PrEP handelt es sich um ein Medikament aus der HIV-Therapie, das den HI-Virus an seiner Vermehrung hindert. Zwei Wirkstoffe gelangen unter anderem in die Zellen der Schleimhäute (z.B. der im Darm), die beim Sex mit Körperflüssigkeiten oder Schleimhäuten des Sexpartners in Kontakt kommen. Dringen HI-Viren in die mit dem Wirkstoff besiedelten Zellen ein, können sie sich dort nicht vermehren, sodass eine HIV-Infektion verhindert wird. Voraussetzung dafür ist jedoch, dass eine ausreichende Menge der Wirkstoffe im Blut und in den Schleimhäuten vorhanden sind. Deshalb muss das Medikament, um eine stabile Schutzwirkung zu entfalten, regelmäßig eingenommen werden. Setzt man es ab, sind bald auch keine Wirkstoffe mehr im Körper vorhanden; der Infektionsschutz ist damit wieder aufgehoben.
„Substanzielles“ Risiko wird verringert
Laut den Deutsch-Österreichischen Leitlinien zur Präexpositionsprophylaxe, die von einer Vereinigung mehrerer Fachgesellschaften, Vereinigungen und Experten ausgearbeitet wurden, wird die PrEP für alle Menschen mit erhöhtem („substanziellem“) HIV-Risiko empfohlen, also u.a. Männern, die homosexuellen Sex haben und im zurückliegenden Viertel- bis Halbjahr ungeschützten Analverkehr hatten, Partner/-innen von HIV-Infizierten, die nicht oder noch nicht lange genug gegen HIV behandelt werden, Prostituierten, die ungeschützten Sex haben oder auch Drogenabhängigen, die keine sterilen Spritzbestecke benutzen.
Wie kommt man nun aber an eine PrEP? Bislang bekommt man sie hierzulande noch nicht auf Rezept, doch Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) hat im Sommer 2018 die Krankenkassen verpflichtet, künftig die Kosten für „den medikamentösen Schutz gegen eine Infektion für Menschen mit einem erhöhten Ansteckungsrisiko“, also für die PrEP, zu übernehmen. Ebenso kommen die Kassen künftig auch für die PrEP-Beratung und medizinische Begleitung auf. Ab wann die Regelung in Kraft tritt, ist noch nicht bekannt.
Wie die PrEP erschwinglich wurde
Die Kosten für die Vorsorge-Pillen waren noch im Jahr 2016 von kaum einem Durchschnittverdiener tragbar; sie lagen zuerst bei horrenden 800, später dann bei ca. 470 Euro für eine Monatspackung. Doch seit Oktober 2017 sieht es besser aus: die PrEP ist nun für rund 40 Euro pro 28 Tabletten in ausgewählten Apotheken zu bekommen. Grund dafür ist eine hart erkämpfte Kooperation zwischen einem Arzneimittelhersteller und etwa 60 beteiligten deutschen Apotheken. Dass diese zustande kam, ist dem Kölner Apotheker und Vorstand der Deutschen Arbeitsgemeinschaft HIV- und Hepatitis-kompetenter Apotheken (DAHKA), Erik Tenberken zu verdanken. Er kämpfte lange dafür, auch Menschen mit geringem Einkommen den Zugang zur PrEP zu ermöglichen, und schaffte es nach zähen Verhandlungen, mit dem Generika-Hersteller Hexal einen bezahlbaren Preis für PrEP auszuhandeln.
Schon jetzt dürfen nur speziell geschulte Ärztinnen und Ärzte die PrEP-Medikamente verschreiben. Heute kann man also entweder mit einem Privatrezept eines der zugelassenen Ärzte, auf dem bestimmte Angaben zwingend verzeichnet sein müssen, in einer der teilnehmenden Apotheken in Deutschland die recht kostengünstige PrEP bekommen. Wer nicht aufs Geld schauen muss, kann sich etwas freier bewegen, denn die anderen zugelassenen PrEP-Medikamente, die je nach Herstellerfirma zwischen 70 und 800 Euro pro Monatspackung kosten, sind in jeder Apotheke in Deutschland zu bekommen – selbstverständlich auch nur auf Rezept.
Strikt abgeraten wird von Versuchen, sich PrEP-Medikamente etwa im Ausland, im Internet oder auf dem Schwarzmarkt zu besorgen – keiner weiß letztlich, was in diesem Tablettenpackungen steckt, und die gesundheitlichen Risiken sind sehr hoch.
Wichtig vor, während und nach der Einnahme: medizinische Kontrolle
Die genauen Anwendungshinweise gibt der begleitende Arzt. Eine PrEP kann entweder täglich über einen längeren Zeitraum oder „anlassbezogen“ kurzfristiger eingenommen werden. Die längerfristige, tägliche Einnahme wird in den Deutsch-Österreichischen Leitlinien zur Präexpositionsprophylaxe ausdrücklich empfohlen. Bei der anlassbezogenen PrEP, die ausschließlich für Analverkehr empfohlen wird, nimmt man das Medikament nur vorübergehend ein, zum Beispiel vor und nach einer Sexparty.
Ganz wichtig ist jedoch, die Einnahme – ob täglich oder anlassbezogen – von einem ausgebildeten Mediziner vorbereiten und begleiten zu lassen, denn die Vorsorge-Pille ist keine schlichte „Safer-Sex-Methode“, sondern ein hochwirksames Arzneimittel, das ins körperliche Geschehen eingreift. Zwar wurden bisher bei den meisten Anwendern nur wenige Nebenwirkungen beobachtet, doch ist bekannt, dass das Medikament die Funktionsfähigkeit der Niere einschränkt. Daher ist eine PrEP für jeden, der an einer Nierenkrankheit leidet, ungeeignet; bei Nierengesunden müssen während der PrEP die Nierenwerte regelmäßig kontrolliert werden. Erst nach Absetzen des Medikaments stellen sich dann die normalen Nierenfunktionen wieder ein.
So ist es nachvollziehbar, dass die PrEP-Einnahme an strenge Auflagen geknüpft ist. Vor Beginn ist – neben der Überprüfung der Nierenfunktion – ein HIV-Test fällig, um sicherzugehen, dass der Behandelte HIV-negativ ist. Die Regel sind auch weitere Tests auf Hepatitis-B, Hepatitis C, Syphilis, Tripper und Chlamydien. Gegen diese Geschlechtskrankheiten schützt die PrEP übrigens nicht, sondern kann ausschließlich eine HIV-Infektion verhindern.
Tests, Tests, Test – doch der Aufwand ist gerechtfertigt
Die laufende Einnahme wird dann gründlich überwacht. Vier Wochen nach Beginn einer PrEP und anschließend alle drei Monate wird, um die Bildung von Resistenzen zu vermeiden, wieder ein HIV-Test durchgeführt, meist auch – in unterschiedlichen Zeitintervallen – Tests auf weitere Geschlechtskrankheiten und die Nierenfunktion. Nach Ende der PrEP werden ein weiterer HIV-Test und eine Syphilis-Untersuchung empfohlen.
Die Tests kann man an vielen Orten durchführen lassen, jedoch ist, um alle notwendigen Untersuchungen zu absolvieren, schon eine gewisse „Rennerei“ nötig, und auch die Kosten sind nicht für jeden einfach so zu tragen. Aidshilfen und ihre Checkpoints sowie Gesundheitsämter bieten die meisten Tests auf HIV, Geschlechtskrankheiten und Hepatitis B (einige Checkpoints auch Tests der Nierenwerte) an. Die Tests an diesen Orten können anonym durchgeführt werden, was in einer Arztpraxis, wo alle Checks möglich sind, nicht der Fall ist. Die Untersuchungen in Aidshilfen, Checkpoints und Gesundheitsämtern sind teils gratis oder kosten maximal 15 Euro. Die Krankenkassen übernehmen unter bestimmten Voraussetzungen die Tests auf HIV, Geschlechtskrankheiten und Hepatitis B. Bei Privatzahlung können die Preise unterschiedlich und manchmal auch sehr hoch ausfallen.
Die vielen Regelungen und Vorschriften mögen manch einen, der eine PrEP machen möchte, stark verunsichern. Jedoch bieten vor allem die Aidshilfen, ihre Checkpoints und Telefon- und Onlineberatungen gute Orientierungshilfen und vor allem verständnisvollen Rat an. Mit dieser Unterstützung schafft man es dann doch recht gut, sich im „Dschungel“ einer PrEP-Behandlung zurechtzufinden.
PrEP – alles andere als eine „niedrigschwellige Safer-Sex-Strategie“
Bei einigen Teilen der Bevölkerung – und auch bei einigen Experten – steht die PrEP in der Kritik. Diese vergleichsweise leicht anwendbare „Safer-Sex-Strategie“ werde, so heißt es, verhindern, dass Risikogruppen sich auch künftig umfassend schützten und verantwortungsvoll mit ihren Sexpartner/-innen umgingen. Doch dagegen verwahren sich viele Betroffene, Mediziner und in der Aids-Beratung Aktive. Natürlich gebe und gab es immer wieder unvernünftige, verantwortungslose Sexpraktiken, sagen sie, doch dass sich z.B. das Sexualverhalten von schwulen Männern durch die neue Präventionsmethode grundlegend zum Negativen ändern wird, glaubt von ihnen kaum jemand. Viele schützten sich trotz PrEP weiterhin aktiv durch Kondome und wüssten genau um die Risiken, die ungeschützter Verkehr mit sich bringe. Der besondere Vorteil der PrEP sei jedoch, dass sie einen besonders hohen Schutzfaktor biete, der eben auch dann bestehen bleibe, wenn das Kondom einmal reiße oder weggelassen werde. Somit könne die Vorsorge-Pille zu einem angstbefreiten Sexualleben – und mehr Lebensqualität – beitragen. Und das sei schließlich ein Vorteil, den man vor allem den Menschen aus den Risikogruppen nur wünschen könne.
Was die Folgen der PrEP-Einnahme betrifft, die ja künftig auf Rezept und damit sicherlich noch weit häufiger erfolgen wird, so kann man nur gespannt sein auf die Ergebnisse einer Studie des Instituts für HIV-Forschung am Universitätsklinikum Essen. Die Studie begleitet die Anwendung seit der Einführung der „40-Euro-PrEP“ in Deutschland und will die Benutzerprofile derjenigen bestimmen, die die Pillen einnehmen. Dabei werden Anwender bei jeder PrEP-Rezeptverordnung aufgefordert, Fragen zu den Gründen der Einnahme und zum eigenen Sexualverhalten sowie zum weiteren Verlauf und zu Verhaltensänderungen befragt. Letztlich verspricht die Studie ein recht genaues Bild davon, wer PrEP in Anspruch nimmt, wie hoch der Bedarf in Deutschland an der PrEP tatsächlich ist, was sie bewirkt und inwieweit die Infektionszahlen zurückgehen. Die erste umfassende Auswertung der Studie wird bereits in Kürze erwartet.
Dass die Infektionszahlen vermutlich zurückgehen werden, zeigt ein Blick auf die Länder, in denen die PrEP bereits etabliert ist, sehr deutlich. In den USA etwa haben sich seit Einführung der PrEP im Jahr 2012 die Neuinfektionen um fast 50 Prozent verringert; vergleichbarer Trends werden auch in Großbritannien und Frankreich verzeichnet. Trends, die hoffen lassen – nicht nur „Betroffene“, sondern uns alle.
Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.