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Immer früher, immer hemmungsloser? Wie gehen Jugendliche heute wirklich mit Sex um?

Kommentar schreiben Aktualisiert am 10. Mai 2016

Sie sind übersexualisiert, machen immer früher ihre ersten sexuellen Erfahrungen und beziehen ihre Aufklärung aus Pornos, die sie immer und überall auf ihren Smartphones verfolgen. So bewerten viele Erwachsene das Sexualverhalten der heutigen Jugendlichen und legen dabei, besorgt kopfschüttelnd, die Stirn in Falten.

Eine berechtigte Sichtweise? Absolut nicht, wenn man den Ergebnissen der aktuellen Jugendsexualitäts-Studie der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung (BZgA) glaubt. Im Rahmen der repräsentativen Befragung mit dem Titel „Jugendsexualität 2015 – Die Perspektive der 14- bis 25-Jährigen“ hat die BZgA im Frühjahr und Sommer 2014 über 5.700 Interviews mit Jugendlichen zwischen 14 und 17 Jahren und deren Eltern sowie erstmals auch mit jungen Erwachsenen von 18 bis 25 Jahren geführt. Auch 1.750 Jugendliche aus Migrantenfamilien wurden befragt. Themen der Befragung sind schwerpunktmäßig Aufklärung zuhause und in der Schule, die ersten Erfahrungen mit Sexualität sowie das Verhütungswissen und -verhalten.

"Generation Porno gibt es nicht“

Die Studie zeichnet tatsächlich ein völlig anderes Bild als das, was viele Medien und nicht wenige Menschen, die sich nur oberflächlich mit Jugendlichen auseinandersetzen, vermitteln wollen. „Sie warten – und sie verhüten“, übertitelt der Spiegel seinen Bericht über die Ergebnisse der Untersuchung, „Sex mit 14 bleibt die Ausnahme“, lautet das Fazit von Focus, und die Süddeutsche bringt die Erkenntnisse der BZgA folgendermaßen auf den Punkt: „Generation Porno gibt es nicht“.

Und in der Tat: Den Studienergebnissen zufolge sind unsere Jugendlichen durchaus sexuell aktiv, die wenigsten allerdings vor dem 17. Lebensjahr. Sie zeigen ein insgesamt verantwortungsbewusstes Verhalten bei der Verhütung und sprechen offen mit dem Partner oder der Partnerin darüber. Beim „ersten Mal“ legen die meisten großen Wert darauf, „es“ mit dem festen Freund oder der festen Freundin zu tun. Probleme oder Fragen zum Thema Sex besprechen sie gerne und oft mit den Eltern – oder holen sich ihre Informationen aus dem Internet. „Verkommene“ Sexualität? Fehlanzeige!

Der Start ins Sexleben – später als vermutet

Schon dass der Einstieg ins Sexleben nicht „immer früher“ passiert, mag manchen erstaunen. Tatsächlich haben sich, wie die BZgA ermittelte, bis zum Jahr 2005 die sexuellen Aktivitäten Jugendlicher altersmäßig immer weiter nach vorne geschoben – danach stoppte dieser Trend und ist jetzt sogar wieder leicht rückläufig. Als Grund für diese Entwicklung vermutet die BZgA einen Wertewandel hin zu eher konservativen Haltungen. Heute hat nur ein kleiner Teil – aktuell sind es sechs Prozent – aller 14-Jährigen bereits Sex und stellt damit unter den Altersgenossen die große Ausnahme dar. Im Alter von 17 Jahren hat lediglich die Hälfte aller Jugendlichen schon sexuelle Erfahrungen gemacht; mit 19 Jahren haben dann fast alle (90 Prozent) ihr "erstes Mal" erlebt.

Die ersten, aufregenden Küsse erleben viele schon in frühem Alter: Rund 74 Prozent aller 14- bis 17-Jährigen sind nicht mehr ungeküsst. Je älter die Mädchen und Jungen werden, desto häufiger findet auch Petting statt: Die große Mehrheit der 17-Jährigen (90 Prozent) hat darin schon Erfahrungen gesammelt.

Die genannten Zahlen beziehen sich ausschließlich auf deutsche Jugendliche. Vor allem junge Frauen mit ausländischen Wurzeln lassen sich länger Zeit – mit allen Formen sexuellen Kontaktes. Als Gründe dafür nennen sie oft moralische Bedenken und finden Sex vor der Ehe „generell nicht richtig“. Etwa jede Fünfte hat Angst, dass die Eltern etwas erfahren und sie dafür bestrafen könnten. Mit 21 Jahren waren erst rund zwei Drittel der jungen Frauen aus Migrantenfamilien schon sexuell aktiv. Jungen aus Migrantenfamilien machen zwar etwas häufiger frühe sexuelle Erfahrungen als ihre deutschen Geschlechtsgenossen, doch ab dem Alter von etwa 17 Jahren sind Jungen ausländischer Herkunft weniger sexuell aktiv als die gleichaltrigen deutschen Jungen.

Das „erste Mal“: Vertrauen ist wichtig

Überraschend viele junge Leute überlassen es offenbar nicht dem Zufall, wann ihr „erstes Mal“ passiert. Fast jeder Dritte der Befragten erzählte, dass der erste Geschlechtsverkehr gemeinsam mit dem Freund oder der Freundin auf den Tag genau festgelegt war. Zwei Drittel der Befragten wiederum sind nicht derart gezielt auf ihren ersten Sex zugesteuert, gut die Hälfte hatte allerdings das Gefühl, es werde „demnächst“ oder „bei der nächsten Gelegenheit“ passieren, wobei dann der genaue Zeitpunkt doch überraschend kam. Bleibt also eine vergleichsweise geringe Zahl der 14- bis 25-Jährigen, die überhaupt nicht mit ihrem ersten Geschlechtsverkehr gerechnet hatten – wobei dann der genaue Umgang mit der Situation wieder sehr unterschiedlich war. Teile der Jugendlichen berichteten von Überforderung und einem negativen Erlebnis, andere wieder bekamen die Situation gut in den Griff und empfanden sie als insgesamt sehr positiv.

Beim „ersten Mal“ brauchen vor allem Mädchen Vertrautheit und Vertrauen. Gut sechs von zehn Mädchen bzw. jungen Frauen haben den ersten Sex mit dem eigenen festen Freund erlebt und wollten dies auch nicht anders. Sexuelle Zurückhaltung begründen viele Mädchen damit, dass „der Richtige“ für die ersten Erlebnisse bisher noch nicht gefunden war. Bei den Jungen und jungen Männern nannten rund 54 Prozent die feste Freundin als erste Sexpartnerin.

Große Unterschiede gibt es wiederum zwischen den Kulturen. Nicht wenige der jungen Frauen nichtdeutscher Abstammung sind bzw. waren mit ihrem ersten Sexpartner verlobt oder schon verheiratet. So feste Bindungen beim ersten Sex kamen bei deutschen Jugendlichen erwartungsgemäß so gut wie gar nicht vor. Bei jungen Männern mit familiärem Migrationshintergrund haben vergleichsweise die wenigsten, nämlich nur rund 43 Prozent, den ersten Sex innerhalb einer festen Beziehung. Bei den meisten dagegen zählte die erste Sexpartnerin zu den „flüchtigen Bekanntschaften“.

Wer klärt auf?

Recht beruhigend für Erwachsene dürften auch die Fakten sein, die die BZgA-Studie zum Thema Aufklärung ermittelt. Demnach spielt das Elternhaus vor allem bei deutschen Jugendlichen eine sehr große Rolle bei Gesprächen und Antworten auf Fragen zum Sex. Eltern sind heute offenbar wichtige Vertrauenspersonen und eine „zentrale Beratungsinstanz in Verhütungsfragen“, wie es die Autoren der Studie formulieren.

Allerdings ist es wohl nicht nur von der allgemeinen Atmosphäre im Elternhaus und der Art der Beziehungen zwischen Eltern und Kindern abhängig, wie offen Jugendliche sich mit ihren Eltern zum Thema Sex austauschen, sondern auch von der Herkunft und dem kulturellen/religiösen Hintergrund. So sprechen 63 Prozent der Mädchen und 51 Prozent der Jungen deutscher Herkunft mit ihren Eltern über sexuelle Themen und Verhütung, bei den Mädchen und Jungen aus Migrantenfamilien sind es dagegen nur 41 Prozent (Mädchen) und 36 Prozent (Jungen).

Insgesamt beobachtet die Studie einen Abwärtstrend, was die Wichtigkeit der Eltern für die Aufklärung angeht. Stattdessen tritt die Schule als professionelle aufklärende Instanz offenbar zunehmend in den Vordergrund. Sie spielt aktuell bei der sexuellen Aufklärung eine nicht unerhebliche Rolle – vor allem für männliche Jugendliche, die sich häufiger als Mädchen zuhause schwer tun, offen über „solche Dinge“ zu sprechen. Tatsächlich berichtet die überwiegende Mehrzahl der Jugendlichen, Aufklärungsthemen im Unterricht besprochen und davon profitiert zu haben. Dabei nennt ein Großteil der Mädchen und Jungen einen Lehrer oder eine Lehrerin als wichtigste Bezugsperson bei ihrer Aufklärung. Das gilt verstärkt für Jugendliche mit Migrationshintergrund. Ihnen fehlen oft die Eltern als Ansprechpartner, weil diese aus religiösen/kulturellen Gründen sexuelle Themen tabuisieren.

… und das „böse“ Internet?

Sicher liegt in der verbreiteten Nutzung der Informationen aus dem Internet ein Grund dafür, dass die Eltern bei der Aufklärung eine nicht mehr ganz so große Rolle spielen noch vor zehn Jahren. Seit der Jahrtausendwende ist die Bedeutung des Internets als Informationsquelle rasant gewachsen. Waren es zunächst vor allem männliche Jugendliche, nutzen seit einigen Jahren verstärkt auch Mädchen die öffentlich zugänglichen Informationen über Sex und Verhütung.

Welche Informationen werden nun zur Beantwortung der eigenen Fragen genutzt? Sind es überwiegend Sexfilme und Pornos, wie so viele befürchten? Keineswegs. Bei den Mädchen und jungen Frauen gibt etwa jede zweite an, Wissen aus Wikipedia und ähnlichen Nachschlagewerken, aus Aufklärungs- und Beratungsseiten oder aus Foren zu ziehen. Bei den Jungen sind es etwa 50 Prozent, die Quellen wie Wikipedia oder Foren nennen, allerdings sagen genauso viele junge Männer, wichtige Informationen aus Sexfilmen bezogen zu haben. Ein signifikant und besorgniserregend häufiges Konsumieren von Pornos unter Jugendlichen hat die Studie dennoch nicht ausgemacht.

Wie wird verhütet?

Wie die Untersuchung feststellt, verhalten sich die meisten der 14- bis 17-Jährigen ausgesprochen umsichtig und verantwortungsvoll bei der Verhütung. Fast alle sexuell aktiven jungen Menschen sprechen mit ihrem Partner oder ihrer Partnerin über Verhütung. Gaben 1980 noch 29 Prozent der Jungen und 20 Prozent der Mädchen an, sich beim „ersten Mal“ überhaupt nicht um Verhütung gekümmert zu haben, sind heute gerade mal sechs bzw. acht Prozent beim ersten Sex derart unbedarft.

Der überwiegend sorgfältige Umgang mit Verhütung schlägt sich auch in der niedrigen Zahl der Teenagerschwangerschaften nieder. Gegenwärtig erwarten insgesamt rund vier Prozent der 14- bis 25-Jährigen ein Kind. Schwangere Mädchen zwischen 14 und 17 Jahren machen unter ihren Altersgenossinnen nur einen sehr kleinen Anteil aus - er liegt weit unter einem Prozent.

Viele Mädchen und Jungen holen sich in Sachen Verhütung Rat bei den Eltern. Die Zahlen sind zwar nicht mehr so hoch wie vor rund zehn Jahren, als die Eltern bei der Verhütungsberatung an erster Stelle standen. Doch sind es immerhin noch sechs von zehn Mädchen und fünf von zehn Jungen aus deutschen Familien, die ihre Eltern hierzu befragen. Zum Vergleich: Bei den Mädchen aus Migrationsfamilien sind es gerade mal 41 Prozent und bei den Jungen ausländischer Herkunft nur noch 36 Prozent.

Was die Verhütungsmittel angeht, liegen nach wie vor Kondom und Pille ganz hoch im Kurs. Sie werden als besonders sicher und zuverlässig eingeschätzt. Dabei werden den Jungen fast immer Kondome als Verhütungsmaßnahme nahegelegt, während den Mädchen weit häufiger zur Pille als zum Kondom geraten wird. Allerdings ist das Kondom beim „ersten Mal“ mit deutlichem Abstand das Verhütungsmittel Nummer eins – das geben zumindest 73 Prozent der 14- bis 25-Jährigen an.

Was bleibt zu tun?

Bei all den positiven und ermutigenden Ergebnissen zeigt die BZgA-Studie zur Jugendsexualität 2015 auch einige Defizite auf. Die Verhütung zählt nach wie vor zu den meist genannten Themen, bei denen Jugendliche sich noch nicht ausreichend informiert fühlen. Jedes dritte Mädchen und jeder vierte Junge zwischen 14 und 17 Jahren melden hier noch größere Unsicherheiten und viele offene Fragen an. Auch bei der medizinischen Aufklärung hapert es offenbar. Drei von zehn jungen Leuten möchten mehr über Geschlechtskrankheiten erfahren. Ebenso viele wollen mehr über die Palette der sexuellen Praktiken wissen. Vor allem Mädchen und junge Frauen wünschen sich mehr Informationen zu den Themen Schwangerschaft und Geburt sowie Abtreibung und sexuelle Gewalt.

Eltern und Schule, aber auch Ärztinnen und Ärzte, Berater und Publizisten haben also weiterhin gut zu tun und sollten sich ihrer Verantwortung bewusst sein, den Jugendlichen eine umfassende Aufklärung zu allen relevanten Themen zu vermitteln. Die gute Grundlage scheint bereits vorhanden zu sein: Ganz offensichtlich sind unsere Jugendlichen, was ihr Sexualverhalten angeht, weit besser als ihr Ruf!

Die Studie steht im Internet als Download zur Verfügung.

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Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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