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Kinderlähmung - längst ausgerottet oder noch gefährlich?

Kommentar schreiben Aktualisiert am 23. September 2020

Die Kinderlähmung ist eine in hohem Maße ansteckende Erkrankung, die durch das Polio-Virus ausgelöst wird. Der Begriff Poliomyelitis geht auf den Arzt Adolf Kußmaul zurück, der 1874 erkannte, dass bei Patienten mit Lähmungserscheinungen die graue Substanz des Rückenmarks (polio=grau, myelos=Mark) betroffen ist. In den darauffolgenden Jahren gelang es Karl Landsteiner erstmals, einen Virus als ursächlich zu beschreiben.1

Bei 95 Prozent der Infizierten verläuft die Krankheit ohne Symptome und ohne Beteiligung des zentralen Nervensystems (ZNS). Dennoch werden bereits hier Antikörpern gegen das Virus gebildet. Grippeähnliche Krankheitszeichen unter Beteiligung des ZNS sind bei ein bis zwei Prozent der Patienten zu erwarten. Nur ein geringer Anteil von 0,1 bis 1 Prozent aller Fälle leidet unter den namensgebenden Lähmungserscheinungen.

Auch heute ist für die Poliomyelitis noch keine spezifische Therapie verfügbar, sodass vorrangig die vorhandenen Symptome behandelt werden. Umso wichtiger erscheint daher die Empfehlung der „Ständigen Impfkommission“ (STIKO) zur Immunisierung gegen das Polio-Virus. Aktuellen Angaben zufolge wurden die letzten Fälle von Kinderlähmung in Deutschland 1992 registriert.2

Inhaltsverzeichnis

 

Kinderlähmung – Übertragungsweg und Ansteckungsgefahr

Verursacht wird die Kinderlähmung durch das Polio-Virus. Virologisch gehört dieses zur Gattung der Enteroviren, die vorwiegend durch über den Mund aufgenommene Körperausscheidungen übertragen werden.3

Der Mensch ist der einzige bekannte Wirt für das Virus, sodass eine Infektion ausschließlich von Mensch zu Mensch geschehen kann. Wird das Polio-Virus aufgenommen, gelangt es über den Rachenraum in den Darm.  Da es sich frühzeitig im Rachen vermehren kann, ist eine Übertragung schon in der Frühphase einer Infektion durch Aerosole möglich. Im Speichel finden sich bereits nach 36 Stunden infektiöse Viruspartikel. Nach einer Inkubationszeit von 3 bis 35 Tagen 2 können dort bis zu einer Milliarde Viren pro Gramm Stuhl ausgeschieden werden. Somit können sich die Menschen über Nahrungsmittel sowie einer direkten Infektion mit kontaminiertem Stuhl (Schmierinfektion) anstecken.

Solange ein Patient Viren ausscheidet, muss von einer hohen Infektiosität ausgegangen werden. In seltenen Fällen kann das Virus über einen Zeitraum von sechs Wochen hinaus im Körper verbleiben. Das Beispiel eines Briten, der zwanzig Jahre Träger des Polio-Virus war, zeigt, dass es durchaus zu sogenannten Langzeitausscheidern kommen kann.4 Es führt zudem vor Augen, dass das Impfprogramm der Weltgesundheitsorganisation (WHO) noch nicht am Ziel einer Ausrottung der Krankheit angelangt ist.

Wie wird die Kinderlähmung diagnostiziert?

Wichtig für die Diagnose ist eine ausführliche Anamnese hinsichtlich klinischer, familiärer und sozialer Fragestellungen. Da das Polio-Virus ausschließlich zwischen Menschen übertragen werden kann, ist es bedeutsam, die Kontaktpersonen ausfindig zu machen. Die Angabe kürzlich durchgeführter Reisen gibt einen weiteren Anhaltspunkt über Art und Herkunft der Erkrankung.

Eine Frau reibt sich die Augen.Die meisten Infektionen mit dem Polio-Virus verlaufen ohne typische Krankheitszeichen. Bei lediglich vier bis acht Prozent aller Fälle treten unspezifische Symptome auf. Entzündungen des Magen-Darm-Traktes sowie Fieber oder Halsschmerzen sind häufige Anzeichen für ein entzündliches Geschehen und können auf eine Ansteckung mit der Kinderlähmung hinweisen. Auch Muskel- oder Kopfschmerzen sind Symptome, die möglicherweise auf die leichte Form der Kinderlähmung hindeuten.

Kommt es drei bis sieben Tage nach der abortiven Poliomyelitis erneut zu Fieber, kann dies als Zeichen gewertet werden, dass das Virus das zentrale Nervensystem infiziert hat. Dies zeigt sich durch eine nicht eitrige Hirnhautentzündung bei gleichzeitiger Nackensteifigkeit und ersten schmerzhaften Muskelkontraktionen.

Die nächste Welle im Krankheitsverlauf ist von starken Schmerzen der Rücken- und Nackenmuskulatur geprägt. Meistens kommt es anschließend zu einer vorübergehenden Besserung, Danach folgt jedoch ein erneuter Fieberanstieg und Lähmungserscheinungen (paralytische Poliomyelitis). Dieser Verlauf in zwei Phasen ist typisch für die Erkrankung bei Kindern. Üblich bei dieser Form ist der asymmetrische Verlauf. Am häufigsten sind die Beine betroffen, wobei die motorische Schwäche sich auch auf die Arme ausbreiten kann. Zudem kann die Erkrankung auf die Bauch- und vor allem die Lungenmuskulatur übergreifen.

Kann die Kinderlähmung im Labor nachgewiesen werden?

Die Labordiagnostik kann das Polio-Virus schon innerhalb von vierzehn Tagen nach der Ansteckung nachweisen. Im Rachensekret oder Stuhl gelingt das mit hoher Wahrscheinlichkeit mittels der Polymerase-Ketten-Reaktion (PCR).5 Durch eine Lumbalpunktion, bei der Liquor aus der Lendenwirbelsäule entnommen wird, kann der Arzt herausfinden, ob bereits das zentrale Nervensystem beteiligt ist.6

Besteht der Verdacht auf Kinderlähmung, muss in jedem Fall ein spezielles Referenzlabor hinzugezogen werden.7 Zum Nachweis kann zusätzlich ein Antikörpertest durchgeführt werden. Da dieser weder eeinen sicheren Nachweis einer durchgemachten Infektion erbringt noch eine Unterscheidung zwischen Wildtypen und Impfantikörpern zeigt, wird der AK-Nachweis nur selten angefordert.8

Post-Polio-Syndrom – eine häufige Spätfolge

Wie der Name vermuten lässt, ist die Kinderlähmung nach der Erholung im Anschluss an die Akutphase nicht überstanden. Eine langsam eintretende Schwächung der schon im ersten Krankheitsverlauf betroffenen Muskelgruppen sind ein erstes Zeichen des Post-Polio-Syndroms (PPS). Eine allgemeine unerklärbare Müdigkeit verbunden mit zunehmenden Muskelschmerzen erhärten den Verdacht auf das PPS. Es wird davon ausgegangen, dass die Schwächung mit jedem Jahr um etwa ein Prozent fortschreitet.9 Schätzungen zufolge treten bei etwa 70 Prozent aller in der Kindheit erkrankter Personen nach 30 bis 50 Jahren erneut Lähmungen auf. Patienten, die schon während der Erstphase unter Lähmungen litten (paralytische Fälle), sind mit 70 Prozent häufiger vom Post-Polio-Syndrom betroffen als solche mit nicht paralytischen Verläufen.

Das PPS wird heute als eigenständige Erkrankung angesehen.10 Während der akuten Phase der Kinderlähmung gehen Nervenfasern zugrunde, die die Muskeln versorgen. Die Muskelgruppen können dadurch den vom Gehirn ausgehenden Reiz nicht mehr erhalten. Nach überstandener Erstkrankheit übernehmen neu gebildete Nervenfasern die Arbeit und führen so zu einer Verbesserung der Krankheitssituation. Nach heutigem Wissensstand entsteht das PPS durch eine über lange Zeit anhaltende Überlastung dieser neu gebildeten Nervenzellen. Ist ein bestimmter Grad der Schädigung überschritten, führt dies zur Ausbildung der für das PPS bekannten Symptome.9

Welche Krankheiten können mit einer Kinderlähmung verwechselt werden?

Symptome, wie sie bei der Kinderlähmung in Erscheinung treten, sind auch bei anderen schwerwiegenden Erkrankungen, wie der Hirnhautentzündung (Meningitis) oder der Frühsommer-Meningoenzephalitis (FSME) bekannt. Zudem muss an eine Diphtherie, die Borreliose oder das Guillain-Barré-Syndrom gedacht werden.11

Wie wird Kinderlähmung behandelt?

Trotz intensiver Forschungsarbeit konnte bislang keine Möglichkeit gefunden werden, welche die Kinderlähmung ursächlich behandelt. Das wesentliche Augenmerk liegt somit auf dem schnellen Wiederaufbau körperlicher Kräfte. In der akuten Phase wird der Patient mit entzündungshemmenden Medikamenten versorgt und die Einhaltung einer meist zwei bis dreiwöchigen Bettruhe empfohlen.

Zusätzliche Behandlungsoptionen ergeben sich aus der möglichen Beteiligung weiterer Organe. Eine Unterstützung der Atemfunktion kann möglich sein, ist jedoch vielfach nur über einen kurzen Zeitraum notwendig.12 In der Zeit nach der Akutphase ist die Weiterführung und Ergänzung der Behandlungsmaßnahmen durch eine physikalische Therapie entscheidend für die Rückbildung der Lähmungserscheinungen. 

Die Anzahl der Poliofälle ist weltweit rückläufig

Ursprüngliches Ziel der WHO war die Ausrottung des Polio-Virus bis zum Jahr 2000. Trotz aller Bemühungen ist es bislang nicht gelungen, die Kinderlähmung auszurotten. Die Zahlen sind seit der Jahrtausendwende indes tatsächlich gesunken. Zwischenzeitlich gab es jedoch mehrere teils länger anhaltende lokale Ausbrüche (Endemien). Besonders stark war Indien von 2000 bis 2010 mit bis zu 1600 Fällen pro Jahr betroffen.13 2019 wurden indes lediglich neun Erkrankungen der Welt-Gesundheits-Organisation gemeldet.

Aktuell sind 13 neue Fälle im Sudan bekannt geworden, sodass von einer weiteren Verbreitung ausgegangen werden kann.14 Endemisch treten Erkrankungen heute noch in Pakistan und Afghanistan auf. In Afrika sowie in einigen Teilen Russlands und Europas muss mit einer Einschleppung der Kinderlähmung gerechnet werden. Die Statistik wird allerdings getrübt, da mehrerer Länder, unter anderem die USA, ihre Daten nicht an die WHO melden. Ebenso könnte die aktuelle Corona-Pandemie zu einem Wiederanstieg der Erkrankungen führen, da die Hilfsprojekte auf den direkten Kontakt zur Bevölkerung angewiesen sind.15

Das Dilemma der verschiedenen Impfmethoden

Die Gefahr, an Kinderlähmung zu erkranken, wird aktuell in Deutschland nicht besonders hoch eingeschätzt, auch weil der letzte Fall aus dem Jahr 1992 datiert ist.

 

Neben den durch Wildstämme verursachten Erkrankungen, finden sich jedoch immer wieder Fälle, welche durch Polio-Viren aus Impfstoffen verursacht werden. Zuletzt infizierten sich auf diesem Weg vereinzelt Menschen in Mali und der Ukraine.16,17 In allen Fällen konnte als Ursache ein abgeschwächter Lebendimpfstoff (cVDPV1) nachgewiesen werden.

Eine Ärztin gibt einem Mädchen eine Spritze.Im Jahr 1962 begann in Deutschland die Immunisierung gegen Polio mit der nach Sabin genannten Schluckimpfung. Die Kampagne „Schluckimpfung ist süß, Kinderlähmung ist grausam“ konnte die Anzahl von Neuerkrankungen innerhalb eines Jahres um 90 Prozent reduzieren.18 Vorteil dieser, auf einem Stück Würfelzucker dargebotenen Impfung sind eine beinahe 100-prozentige Immunisierung19 sowie eine Immunität der Darmzellen gegenüber dem Virus.20

Von Nachteil ist eine notwendige Mehrfachimpfung von bis zu siebenmal, um einen sicheren Impfschutz zu erhalten. Zudem beläuft sich das Risiko, durch die Aufnahme abgeschwächter Lebendimpfstoffe eine Poliomyelitis zu entwickeln auf ein bis zwei Erkrankungen pro einer Million Impfungen.  Daher empfiehlt die Ständige Impfkommission (STIKO) seit 1998 die Verwendung inaktivierter Polio-Impfstoffe. Aufgrund der fehlenden Immunisierung der Darmzellen können sich mit diesem IPV-Impfstoff geimpfte Personen dennoch mit dem Polio-Virus infizieren. Da sie in diesem Fall auch über den Darm Viren ausscheiden, gelten sie als potentielle Überträger.20

Eine Studie im Jahr 2014 konnte für eine Kombination beider Impfstoffe einen überzeugenden Erfolg aufzeigen. Die Anzahl der Virus-Ausscheider nach Immunisierung mit inaktivierten Polio-Virus sank um bis zu 76 Prozent, nachdem eine Auffrischung mit der Schluckimpfung vorgenommen wurde.21

Seit 2014 besteht die von der Weltgesundheitsorganisation ausgerufene „Gesundheitliche Notlage mit internationaler Tragweite“ für das Polio-Virus. Für Deutschland hat dies hinsichtlich der bestehenden Impfempfehlungen keine weitere Bedeutung. Gerade hinsichtlich der prekären Lage in Afghanistan und Pakistan wird Reisenden eine Grundimmunisierung mit dem inaktivierten Polio-Impfstoff empfohlen, welche nicht älter als zwölf Monate sein sollte. Zusätzlich wird bei längeren Aufenthalten in diesen Risikogebieten die Verpflichtung für eine zusätzliche Impfung mit einem Lebensimpfstoff (Schluckimpfung) erwogen.2

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Jürgen Kressel
Autor: Jürgen Kressel

Sein beruflicher Werdegang hat sich in letzter Zeit mit persönlichen Vorlieben verbunden. Als Medizinisch technischer Assistent haben sich die Erfahrung und Ehrgeiz zu einem ganz ordentlichen Wissen auf einigen Gebieten entwickeln können. Fachlich ist er vor allem im Bereich der Allergologie (insbesondere Nahrungsmittelallergien), Endokrinologie (allgemein und Kinderwunsch) und Gastrologie versiert. Seine letzten Berufsjahre als MTA hat er in einem Notfalllabor eines großen Krankenhauses eingebracht.

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