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Minimalismus, Downshifting und Co.: Sinnfragen in Zeiten der Krise

Kommentar schreiben Aktualisiert am 25. Juni 2020

Die Corona-Pandemie hat unser betriebsames, oft hektisches, von Arbeitszeiten, Terminen und Verabredungen durchgetaktetes Leben voll ausgebremst. Viele Menschen haben unter den umfassenden Beschränkungen schrecklich gelitten und leben erst im Zuge der allmählichen Lockerungen, Wiederöffnungen und Neustarts wieder auf. Andere wiederum, die in den Wochen des „Lockdowns“ das Privileg hatten, nicht noch mehr Stress durch Home-Office plus Kinder oder drängende Existenzsorgen durchstehen zu müssen, konnten dieser ruhigen Lebensphase durchaus etwas abgewinnen. Sie haben die Zeit für innere Einkehr genutzt, auch um beispielsweise über die Sinnhaftigkeit ihres bisherigen Lebens nachzudenken. Schon vor Corona zeichnete er sich ab, das Virus und seine Folgen haben ihn aber bei vielen noch verstärkt: der Trend zum Reflektieren, was einem wirklich wichtig ist – und der Wille, Alltag und Freizeit auch danach auszurichten. „Minimalistischer“ wollen viele jetzt leben, andere „fahren herunter“ – neudeutsch nennen wir das Ganze „Downshifting“.

 

Wie schön ist es, über leergefegte Straßen zu radeln – ohne den stressigen Autoverkehr wird der Weg zum Ziel. Mal wieder ganz alleine durch Park oder Wald spazieren – in Zeiten der schärfsten Kontaktbeschränkungen für viele die einzige Möglichkeit, raus aus der Wohnung zu kommen, um dann festzustellen: Welch Genuss! Mal wieder den Wind in den Bäumen und die vielstimmigen Vogelgesänge hören, weil keine Flugzeuge lautstark über die Baumwipfel fliegen und keine aufgekratzt schnatternde Wandergruppe die inneren Gedankenbahnen unterbricht. Man spürt förmlich, wie frische Energie durch Körper und Seele strömt, kehrt aufgetankt und heiter nach Hause zurück. Kein Wunder, dass sich viele nun vorgenommen haben: Solche ruhigen Genüsse, abseits von Stress, Hektik, Betriebsamkeit und Lärm, die will ich mir in Zukunft wieder häufiger gönnen. Und dafür vielleicht einige andere, bisher gewohnte Aktivitäten reduzieren. Spazierengehen statt Shopping. Waldbaden statt Wellness-Weekend. Und für die, die wirklich Ernst machen und nun auch noch beruflich kürzertreten wollen, könnte künftig öfter gelten: Meditation statt Meeting.

 

Inhaltsverzeichnis

 

 

Den Augenblick wertschätzen

 

Wer auch in Krisenzeiten positiv denkt, der wird in den vergangenen Wochen und Monaten immer wieder festgestellt haben, dass es gerade die kleinen Freuden sind, die das Leben bereichern. Die Krise hat uns im Griff, das Virus lehrt uns das Fürchten – doch dass wir immer noch allein oder mit dem oder der Liebsten durch die Frühlingssonne laufen, uns an der Schönheit der Natur erfreuen und uns mit Freunden und Kollegen am Telefon oder per Videokonferenz austauschen dürfen, das erscheint uns plötzlich ungeheuer wertvoll. Zumal das Virus und seine Gefahren uns auch die Zerbrechlichkeit unseres gewohnten Lebens, unseres Tuns und unserer Gesundheit bewusst machen. Dadurch mag man sich aufgerufen fühlen, den Moment und seine kleinen Freuden umso mehr zu schätzen.

 

Nicht Besitz und Erfolg, die berufliche Position oder das dicke Aktienpaket retten uns jetzt Laune und Wohlbefinden, sondern ganz schlichte und gleichzeitig große Dinge, die man nicht kaufen kann: Freundschaft, Zugehörigkeit, Liebe. Oder eben das Rauschen der Bäume, das Strahlen der Sonne und das Zwitschern der Vögel. Es sind im Übrigen auch genau diese Dinge, die uns symbolisieren: Das Leben geht weiter, auch in Zeiten von Corona und anderen Krisen

 

Der Psychoanalytiker Hans-Jürgen Wirth beschreibt einem von ihm verfassten und im „Spiegel“ veröffentlichten Text1 die Reaktion von Menschen, die wissen, dass sie nicht mehr viel Lebenszeit übrig haben. Die ihnen verbleibende Zeit scheine diesen Menschen besonders wertvoll, „während im Alltag häufig ein Tag vergeht wie der andere und man während des größten Teils der Woche hofft, das Wochenende möge bald kommen“, so Wirth. Todkranke Menschen entwickelten dagegen „eine unerwartete Motivation, ihre noch verbleibende Lebenszeit in für sie sinnvoller und kreativer Weise zu nutzen.“

 

Beispielsweise führe ein solcher Mensch intensive Gespräche oder bereinige Beziehungskonflikte. Der Psychoanalytiker zieht die Parallele zur Corona-Pandemie: durch sie werde uns, wie auch durch den bevorstehenden Tod, die Vergänglichkeit bewusst – vielleicht nicht direkt durch eigene Betroffenheit, aber durch beängstigende Informationen und Nachrichten von außen. „Unser Urvertrauen (...) in die Verlässlichkeit, Stabilität, Planbarkeit unserer persönlichen Lebensumstände (...) ist fundamental erschüttert“, konstatiert Hans-Jürgen Wirth und fragt: „An welchen Werten wollen wir uns in Zukunft orientieren?“

 

Was brauche ich wirklich zum Leben?

 

Eine allgemeingültige Antwort hat Wirth darauf nicht, aber er regt dazu an, die Krise als grundsätzliche Chance zu begreifen – die Chance, auch im Alltag Wichtiges von Unwichtigem zu unterscheiden. „Was eben noch unverzichtbar erschien, ein zusätzliches Arbeitstreffen, ein wichtiges Fußballspiel, ein schnelles Bier in der Kneipe, hat seine frühere Bedeutung eingebüßt“, so Wirth. Dagegen würden nun andere Dinge fundamental wichtig, vor allem der intensive Kontakt zur Familie, zu Partnern und nahestehenden Menschen. Wirth stellt fest, dass sich in der derzeitigen Krise auch manch gesellschaftlicher Wert als „fragil, vergänglich, ja vielleicht auch als gut verzichtbar“ erweise. Daher gelte es nun zu diskutieren, nach welchen Werten die Gesellschaft nach der Krise leben wolle. Wirths Schlusswort liest sich aufrüttelnd: „Im Gegensatz zum Sterbenden (...) wird unsere Gesellschaft weiterleben – und wir können ihre Zukunft gestalten.“

 

„Downshifting“ vor dem Hintergrund einer Krise bedeutet, auf der ganz persönlichen, damit aber auch auf der gesellschaftlichen Ebene neue Werte zu formulieren und sie demnach auch zu leben. Die Grundfrage, die sich dabei stellt, ist sicherlich: „Was brauche ich wirklich zum Leben?“ Eine Antwort darauf glauben die sogenannten „Minimalisten“ gefunden zu haben. Anhänger dieses konsumkritischen Trends, der bereits seit Jahren immer mehr Anhänger zu finden scheint, haben zwei statt zehn Hosen im Schrank und nur einen Tiegel Creme im Bad. Sie reparieren Kaputtes, statt es durch Neues zu ersetzen, entrümpeln Keller und Dachböden und räumen auch sonst alles Überflüssige (z.B. auch die ständige Nutzung von Smartphones und die Kommunikation über soziale Medien) konsequent aus ihrem Leben. Sie beschränken sich auf das Nötigste, setzen also auf bewussten Verzicht und einen schlichten, achtsamen und nachhaltigen Lebensstil. Derart vereinfacht und ohne ständige Kauf- und Konsumreize zu leben, schaffe Ordnung und Klarheit – ein Gefühl, das bald vom Äußeren auch ins Innere übergehe, sagt eine der bekanntesten Vertreterinnen dieser Bewegung, die Youtuberin Ekaterina Polyakova alias „Minimal Mimi“, in einem Radiointerview mit Deutschlandfunk Kultur.2

 

„Downshifting“: Stresspegel runter, Lebensqualität hoch

 

Die Wohlstandsbewegung der „Minimalisten“ mag durchaus kritisch zu bewerten sein: Wer nicht freiwillig, sondern gezwungenermaßen „nur das Nötigste“ besitzt, dem wird dieser aus reinem Überfluss entstandene Trend reichlich zynisch erscheinen. „Verzicht muss man sich leisten können“, übertitelt etwa die ZEIT einen bissigen Artikel zum Thema3. Doch ist klar: Der Trend ist eine deutliche Gegenposition zu Konsumwahn, Ressourcenverschwendung und Klimazerstörung. Und wenn schwierige Zeiten wie die Corona-Krise immer mehr Menschen dazu bewegen, ihren Lebensstil immer mehr „herunterzufahren“, dann hat das für die gesamte Gesellschaft erhebliche Konsequenzen. Das wirtschaftliche Leben und die Arbeitswelt natürlich eingeschlossen.

 

Hier ist der Trend zum „Downshifting“ schon seit Jahren erkennbar und auch nachgewiesen.

 

Unter anderem zeigt eine österreichische Studie aus dem Jahr 2017, dass drei Viertel der befragten Personalverantwortlichen in ihrem Unternehmen einen „Trend zum Downshifting“ feststellten. „ArbeitnehmerInnen schränken ihre Arbeits- und Konsumtätigkeiten zu Gunsten von mehr Freizeit ein und erwarten sich dadurch das Führen eines selbstbestimmteren Lebens“, heißt es in der Pressemitteilung zur Studie.4    

Auch wenn bisher nur vergleichsweise wenige ArbeitnehmerInnen damit Ernst gemacht haben – vor dem Hintergrund der Coronakrise werden sich Menschen wohl verstärkt mit der Frage befassen: „Will ich arbeiten, um zu leben, oder leben, um zu arbeiten?“ Downshifter wählen die erste Option – und fahren ihr Stresspensum (und damit meist auch ihre Karriere-Etage) deutlich herunter. „Downshifting bedeutet (...) anstelle der Karriere eine ausgeglichene Work-Life-Balance zu wählen. Es ist ein mutiger Schritt, für viele ArbeitnehmerInnen sogar undenkbar, und heißt in der Regel das Aus für die große Karriere“, so die Definition im Business-Portal „Arbeits-ABC“.5

 

Gleichzeitig, so heißt es weiter, bedeute Downshifting für viele ArbeitnehmerInnen die Notbremse, weil sie merkten, dass sie mit ihrem Pensum geradewegs in einen Burnout oder eine andere stressbedingte Krankheit hineinliefen. Meist, so führt der Artikel aus, sei eine Kombination aus unterschiedlichen Gründen für das berufliche „Herunterfahren“ verantwortlich. Neben gesundheitlichen Problemen, familiären oder finanziellen Veränderungen führten viele „Downshifter“ auch eine „Verlagerung der Prioritäten“ (die sich vielfach durch eine tiefgreifende Erfahrung wie die Corona-Krise ergibt) als Motiv für ihre Entscheidung an.

 

 

Die Krise als Chance zur Veränderung nutzen!

 

Auch wenn diese Lebensveränderung meist mit geringerem Einkommen und Karriere- oder Image-Einbußen einhergehe, so zeugten entsprechende Erfahrungsberichte doch von einer „deutlich höheren Lebensqualität“. Wie etwa die Aussagen mehrerer einstmals höchst erfolgreicher und beruflich voll ausgelasteter Menschen in einem ZEIT-Artikel6. Menschen, die nun etwas ganz anderes machen, das ihnen sinnvoller und erfüllender erscheint. Etwa Andreas Utermann, der sich vom Chef-Vermögensverwalter zum Hausmann wandelte, um nun seiner berufstätigen Frau den Rücken freizuhalten. Oder die Ex-Deutsche Bahn-Marketingchefin Antje Neubauer, die einfach mal wieder „unverplant“ sein und für ihre Freunde wieder Zeit haben wollte. Und Moderator Tobias Schlegl, der seltener in den Medien auftritt und jetzt als Notfallsanitäter arbeitet, um „etwas gesellschaftlich Relevantes" zu machen.

 

Fazit: Die Corona-Pandemie wird, so viel ist jetzt schon sicher, die Welt, wie wir sie bisher kennen, verändern. Vielleicht auch viele einzelne unserer Leben? Wer die Chance dazu und das Bedürfnis danach hat, sollte sich trauen. Jetzt.

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Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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