Natur-Defizit-Syndrom - Problem unserer Zeit!
Kinder brauchen Naturerfahrung, um kognitive, motorische und soziale Fertigkeiten bestmöglich zu entwickeln. Einzig an der Umsetzung scheitert es häufig. Der Wegfall von freien Flächen, Dörfersterben, zunehmende Digitalisierung des Alltags sowie überbesorgte Eltern („Helikoptereltern“) tragen dazu bei, dass Kinder heutzutage weit weniger mit Natur in Berührung kommen, als das noch vor ein bis zwei Generationen der Fall war. Der Autor Richard Louv prägte in diesem Zusammenhang den Begriff des Natur-Defizit-Syndroms und macht auf die verheerenden Folgen des Verlustes von Naturerfahrung aufmerksam. Was ist an solchen Befürchtungen dran? Damit beschäftigt sich dieser Artikel.
Was ist das Natur-Defizit-Syndrom?
Der Begriff Natur-Defizit-Syndrom wurde 2005 durch den Autor Richard Louv geprägt. In seinem Bestseller „Last Child in the Woods: Saving our Children from Nature-Deficit Disorder“ (zu deutsch: „Das letzte Kind im Wald: Geben wir unseren Kindern die Natur zurück!“) beschäftigt er sich eingehend mit den negativen Folgen der zunehmenden Naturentfremdung für Kinder. Im Nachfolgewerk „The Nature Principle“ (zu deutsch: „Das Prinzip Natur“) weitete Louv seine Thesen 2012 auch auf Erwachsene aus.
Nach Louvs Auffassung brauchen Kinder Natur, um sich vor Krankheiten der Zivilisation zu schützen beziehungsweise diese zu heilen.1 Er betont, dass das Natur-Defizit-Syndrom nicht als klinisches Leiden im eigentlichen Sinne zu verstehen sei, aber dennoch schwerwiegende Auswirkungen auf unser körperliches und seelisches Wohlbefinden haben könne.2
Mit der Betonung der Relevanz von Naturerfahrung für körperliche, geistige und seelische Gesundheit, reiht sich der Autor in eine Riege namhafter Philosophen und Pädagogen ein, man denke etwa an Humboldt oder Rousseau. Auch Natur- und Umweltpädagogik sowie Erlebnispädagogik als Richtungen innerhalb der Pädagogik sind manchem durchaus ein Begriff.
Naturentfremdung: ein Problem unserer Zeit
Warum Naturentfremdung Kinder heutzutage weit stärker betrifft, als das in vorherigen Generationen der Fall war? Maßgeblich ist das dem Verlust von offenen Plätzen und Grünflächen geschuldet sowie dem Einzug elektronischer Medien in unseren Alltag. Volle Terminkalender und zunehmende Angst vor der Natur („Kultur der Angst“, wie Louv sie nennt), tun ihr Übriges.3
Darüber hinaus trägt noch einiges mehr dazu bei, dass Kinder immer weniger mit der Natur in Kontakt kommen, sie nicht mehr unbefangen erleben und begreifen dürfen:
Verlagerung des Lebensmittelpunktes in die Städte/Dörfersterben: Es leben heute immer weniger Menschen auf dem Land und damit mit der Natur.
Tendenz zu Wenig-Kind-Familien: Dies führt dazu, dass sich die Aufmerksamkeit der Eltern im Schnitt auf ein bis zwei Kinder richtet, was es dem Nachwuchs mitunter erschwert, seine Umwelt selbständig (= losgelöst von den Eltern) zu entdecken.
Verlust von Autonomie/“Helikoptereltern“: Kindern wird heutzutage ein weit geringerer Bewegungsradius zugestanden, als das noch vor ein bis zwei Generationen der Fall war. Grundschüler werden mit dem Auto bis vor das Schultor gefahren, das freie und unbeobachtete Spiel mit Freunden im Freien entfällt zugunsten von Freizeitkursen und der Beschäftigung mit neuen Medien.
Was Natur in unseren Kindern bewirkt
Spielen und Bewegung sind elementare kindliche Bedürfnisse. Geistige, soziale und motorische Fertigkeiten werden dabei erlernt und geschult. Natur wirkt stets ganzheitlich. Sie bietet Möglichkeiten, sich bestmöglich zu entfalten und stellt auf diese Weise das Rüstzeug für das gesamte weitere Leben zur Verfügung.
Eine natürlich gewachsene Umgebung bewirkt weit mehr bei Kindern, als eine künstlich geschaffene das vermag. Darüber hinaus fungiert die Natur als Spiegel, in dem sich das Kind entdecken und als Teil dieser Welt begreifen kann. Natur ist außerdem eine gute Lehrmeisterin. Sie vermittelt Empathie, Kreativität sowie Fantasie und schenkt zudem Lebenslust.4
Dass sich Naturerfahrung und Bewegung positiv auf die kognitive Entwicklung auswirken, ist hinlänglich belegt. Doch das freie Spielen in der Natur – ungestört vom Einfluss Erwachsener – hat noch mehr zu bieten. So kommt beispielsweise der Abenteuereffekt zum Tragen. Herausforderungen anzunehmen, Grenzen auszutesten, sich Ängsten zu stellen und dabei über sich selbst hinauszuwachsen, lässt den Nachwuchs riesige Entwicklungssprünge vollziehen. Dopamin wird freigesetzt, neuronale Verbindungen im Gehirn entstehen. Mit dem Spiel in der freien Natur entwickeln Kinder ein Gefühl dafür, was sie schaffen können und gewinnen damit mehr und mehr Vertrauen in die eigenen Fähigkeiten. Dass sich das nachhaltig auf die Selbstwertentwicklung auswirkt, versteht sich von selbst.5
Und noch etwas schafft Natur, wie niemand sonst: Sie wirkt auf den Parasympathikus und sorgt auf diese Weise für Entspannung. Nachweislich lässt sie die Konzentration des Stresshormons Cortisol im Blut sinken. Kinder, die sich viel in der Natur aufhalten, sind ausgeglichener und weniger gestresst.6 Kurz gesagt: Natur vermag es, unsere Kinder zufriedener zu machen und bereitet sie bestens auf die Widrigkeiten des Lebens vor!
Auch auf die motorische Entwicklung wirkt sich Natur positiv aus. So schult sie von der Koordination bis hin zur Balance nahezu alle motorischen Fertigkeiten. Das zeitlich ausgedehnte unorganisierte Spiel in freier Natur verbessert das kindliche Durchhaltevermögen und die Orientierung im Raum. Außerdem schult die Natur alle Sinne, selbst jene, die im Alltag oftmals zu kurz kommen wie Fühlen, Riechen und Schmecken.
So äußert sich das Natur-Defizit-Syndrom
Naturentfremdung kann Kinder in ihrer körperlichen, seelischen und geistigen Entwicklung deutlich beeinträchtigen, nicht nur Louv sieht das so. Der Verlust von Naturerfahrung macht sich auf unterschiedliche Weise bemerkbar, angefangen von Einbußen in Konzentration und Antrieb bis hin zu Übergewicht und Essstörungen.
Mögliche Anzeichen eines Natur- und Bewegungsdefizits:
- Kinder verhalten sich ängstlich und zeigen wenig Antrieb
- Konzentrationsfähigkeit sinkt
- Strategien, mit Langeweile umzugehen, sind nur unzureichend vorhanden 7
- Lethargie/Gleichgültigkeit ist erkennbar
- Flucht in virtuelle Welten findet statt
- Tendenz zu Gewalt, Aggression und Suchtverhalten zeigt sich 8
- Kinder leiden vermehrt an Kopfschmerzen
- Tendenz zu Rückenschmerzen und Haltungsschäden zeigt sich
- Motorische Defizite werden deutlich
- Übergewicht und Essstörungen können sich bemerkbar machen
- Eine Tendenz zu Depressionen ist gegeben 9
- Instinkte und Begabungen, über die der Mensch von Natur aus verfügt, verkümmern
- Emotionale Bindungsfähigkeit leidet
- Es kommt zu Einbußen in Eigenschaften wie Empathie, Fantasie oder Kreativität 10
Wie lässt sich das Natur-Defizit-Syndrom bekämpfen?
Für Kinder ist es wesentlich, nicht (nur) Informationen über Natur anzuhäufen, sondern sie direkt erfahren zu dürfen. Wenn sie die Natur auf eigene Faust entdecken, sich als Teil dieser empfinden, gelingt es, Potentiale bestmöglich zu entwickeln. Was es dazu braucht? Eltern, die ihren Kindern Naturerfahrung ermöglichen und das weitestgehend ohne Einmischung.11 Dem Nachwuchs einen gewissen Aktionsradius zuzugestehen, ihn in seiner Autonomie zu fördern und die eigenen Ängste zu überwinden, ist in diesem Zusammenhang unabdingbar. Häufig ist es nämlich absurderweise gerade die überbordende Sorge, die das bewirkt, wovor Eltern ihre Kinder doch eigentlich schützen wollen: Verletzungen sowie eine nachteilige körperliche und seelische Entwicklung. 12
Zurück zur Natur – Tipps für den Alltag
Wichtig ist, dass Kinder Natur auf eigene Faust entdecken dürfen. Anregungen von Eltern sind zwar erlaubt, Einmischen ist jedoch verboten! Autonomie und Selbstbestimmung sind wesentlich. Einige Tipps für entspanntes Naturerleben haben wir auf Lager:
Natur ist überall
Auch wenn der Lebensmittelpunkt in der Stadt liegt, finden sich naturbelassene Fleckchen, man muss nur Ausschau danach halten. Spielplätze mit verwilderten Ecken, Lehrbauernhöfe, der Stadtpark oder ein kleines Wäldchen am Stadtrand – es braucht keinen riesigen Nationalpark, um Kinder glücklich zu machen.
Naturerfahrung kennt kein schlechtes Wetter
Naturerfahrung funktioniert bei jedem Wetter, so können unterschiedliche Witterungsbedingungen doch auch ganz unterschiedliche Sinneserfahrungen bieten. Auch wichtig: Kinder dürfen sich schmutzig machen. Ja, sie müssen sogar!
Anregungen erlaubt
Die Natur soll zwar eigenständig erlebt werden, kleine Anregungen sind aber natürlich trotzdem erlaubt. Wie wäre es mit einer Nachtwanderung durch den Wald, um die Stimmung auf sich wirken zu lassen und nachtaktive Tiere zu Gesicht zu bekommen? Oder Sie lassen Ihr Kind ein wenig barfuß laufen. Wie fühlen sich Wiese, Sand, Moos oder Steine auf den Fußsohlen an? Kinder lieben es außerdem, Naturkonzerte zu hören. Suchen Sie gemeinsam mit dem Nachwuchs ein lauschiges Plätzchen auf, schließen sie die Augen und lassen die Geräusche der Umgebung auf sich wirken. Älteren Kindern macht man mit einer Schatzsuche im Wald eine Freude. Das bietet sich auch für Geburtstagsfeiern an.
Selbstgepflückt schmeckt am besten
Essbares anzubauen und/oder zu ernten, weckt bei Kindern Interesse für die Gesetzmäßigkeiten der Natur. Darüber hinaus erfahren sie, dass Nahrung nicht zwangsläufig aus dem Supermarkt kommen muss. Das Fensterbrett ist ausreichend, um Kresse oder Schnittlauch anzubauen, am Balkon oder im Garten gedeihen Tomaten, Gurken, Paprika, Erdbeeren, mediterrane Kräuter oder Beeren. Auch Selbsternte-Parzellen sind gefragt. Pflanzenkundige Eltern können mit ihren Kindern essbare Wildkräuter wie Bärlauch, Waldmeister oder Löwenzahn sowie Pilze sammeln.
Quellenangaben (Stand 17.06.2019):
4 Vgl.: https://www.geo.de/natur/oekologie/11941-bstr-kinder-raus-die-natur
8 Vgl.: https://diepresse.com/home/bildung/erziehung/693983/NaturDefizitStoerung_Lieber-Steckdose-als-Wald
11 Vgl.: https://diepresse.com/home/bildung/erziehung/693983/NaturDefizitStoerung_Lieber-Steckdose-als-Wald
Daniela Jarosz ist Sonder- und Heilpädagogin. Während des Studiums hat sie sich intensiv mit Inhalten aus Medizin und Psychologie auseinandergesetzt. Sie arbeitet seit vielen Jahren im psychosozialen Feld und fühlt sich außerdem in der freiberuflichen Tätigkeit als Autorin zuhause. Im redaktionellen Bereich hat sie sich auf die Fachrichtungen Medizin, Gesundheit, Nachhaltigkeit, Work-Life-Balance sowie Kinder und Familie spezialisiert.