Patchworkfamilien - Modell der Zukunft?
Häufig haftet Patchworkfamilien die Vorstellung einer Idylle an, doch die Realität ist oftmals eine andere. So manchen bringt eine solche Familiensituation an seine organisatorischen und emotionalen Grenzen – darüber gesprochen wird jedoch kaum. Dabei hält das Familienkonzept „Patchworkfamilie“ – so es funktioniert – durchaus viele Chancen bereit.
In diesem Beitrag möchten wir uns gerne umfassend dem Thema Patchworkfamilie widmen. Zahlen und Fakten gelangen dabei ebenso in den Blick wie die spezielle Situation für Eltern und Kinder. Welche Problemlagen auftauchen können und warum gerade in Patchworksituationen besonders viel Feingefühl gefragt ist, möchten wir außerdem beleuchten. Abschließend dürfen Tipps für den Alltag sowie Vorteile, die sich aus der Patchwork-Konstellationen heraus ergeben, natürlich nicht fehlen.
Patchworkfamilien: Zahlen und Fakten
Patchwork bezeichnet ein gängiges Familienkonzept. Es handelt sich dabei um eine Partnerschaft, in die mindestens einer der Beteiligten ein oder auch mehrere Kinder einbringt. Um als Patchworkfamilie zu gelten, sind gemeinsame Kinder nicht zwingend erforderlich. Eines haben nahezu alle diese Familien gemeinsam: In der Vergangenheit kam es zu einer Trennung oder Scheidung beziehungsweise zum Verlust des ehemaligen Partners durch einen Todesfall. Das stellt alle Beteiligten vor eine große Herausforderung. Zudem unterscheidet sich eine Patchworkfamilie von der klassischen Kernfamilie auch dadurch, dass sie quasi über Nacht entsteht, was in der Regel mit großer Dynamik verbunden ist.1
Grundsätzlich sind Patchworkfamilien keine neue gesellschaftliche Erscheinung. Auch früher waren Stieffamilien keine Seltenheit, allerdings haben sich die Umstände ihrer Entstehung verändert. War in vergangenen Zeiten hauptsächlich der Tod eines Elternteils Grund für ein Patchworksystem, geht diesem heute in erster Linie eine Trennung oder Scheidung voraus.2
Wie viele Patchworkfamilien aktuell in Deutschland leben, lässt sich statistisch nicht abbilden. Unsere Beziehungsmodelle sind stetigem Wandel unterworfen, da ist Messbarkeit schwierig. Zwar existieren genaue Zahlen, was die Scheidungsrate angeht (so wurden im Jahr 2018 32,94 % aller Ehen geschieden3), daraus lassen sich aber nicht unbedingt Rückschlüsse auf die Patchworksituation ziehen. Immerhin werden mittlerweile viele Kinder unehelich geboren. In Bezug auf Zahlen zu Stieffamilien muss man sich daher mit Schätzungen begnügen, die durchaus sehr unterschiedlich ausfallen. Aktuell geht man davon aus, dass etwa 7-13 % aller Familien in Deutschland ein Patchworksystem leben. Die tatsächliche Zahl ist mutmaßlich höher.4
Patchwork: Die neue Lebenssituation braucht Feingefühl
Dass Patchworkfamilien eine gesellschaftliche Normalität darstellen, bedeutet nicht, dass das System wie von Zauberhand funktioniert. Im Gegenteil, Patchwork braucht sehr viel Feingefühl und Geduld, denn die Dynamik, mit der zusammengewürfelte Familien zu kämpfen haben, ist mitunter immens. Loyalitätskonflikte, Konkurrenzdenken, Rollenfindung oder Unsicherheit sind Schlagworte, die in dem Zusammenhang ganz sicher ihre Berechtigung haben. Dazu gesellen sich nicht selten auch noch rechtliche Fragen beziehungsweise Streitigkeiten (Sorgerecht, Unterhaltsregelungen) – alles in allem also eine recht spannungsgeladene Situation, mit der alle Beteiligten umgehen müssen.
Für Stiefmütter beziehungsweise Stiefväter ist es wichtig, nicht zu schnell zu viel zu erwarten. Man muss der neuen Lebenssituation Zeit geben, Kinder bauen nicht von heute auf morgen Vertrauen zu völlig fremden Personen auf, nur weil sich diese in ihre Mama oder Papa verliebt haben. Wesentlich ist es, keine Eltern- oder Erziehungsrolle zu übernehmen, sondern ausreichend Raum zu schaffen, um ein freundschaftliches Verhältnis zu den Stiefkindern aufzubauen.5 Zu viel Engagement kann Kinder aber auch abschrecken, Zurückhaltung lautet hier die Devise. Zudem sollte man tunlichst vermeiden, wertend über den anderen Elternteil zu sprechen.
Patchworkfamilien: Gefühle der Kinder ernst nehmen
In Patchworkfamilien muss besonders auf die Kinder Rücksicht genommen werden, denn sie haben sich diese Situation nicht selbst ausgesucht. Ihnen empathisch zu begegnen und ihre Gefühle ernst zu nehmen, ist daher oberstes Gebot. Wenn Kinder Teil einer Patchworkfamilie werden, ist im Vorfeld meist schon eine Menge passiert. Die Trennung der Eltern, der Verlust des bisher gewohnten Lebens – all das schafft Wunden, die Zeit brauchen, um zu verheilen. Tauchen dann plötzlich auch noch eine Stiefmama oder ein Stiefpapa auf der Bildfläche auf, ist das Gefühlschaos komplett.
Loyalitätskonflikte beziehungsweise Autoritätskonflikte stehen dann häufig an der Tagesordnung.6 Es ist ein immenser Anpassungsprozess, den das Kind innerhalb kürzester Zeit durchlaufen muss. Die Trennung der Eltern, ein neues Familiengefüge – kein Wunder, dass das Spuren hinterlässt und langfristige Auswirkungen zur Folge hat. Nicht selten fühlen sich Kinder in solchen Konstellationen ohnmächtig, ausgeliefert, alleingelassen und überfordert.7
Patchwork: Erwachsene als Vorbilder
Erwachsene in Patchwork-Konstellationen sollten sich unbedingt in Geduld üben. Engagement ist nicht grundsätzlich falsch, dennoch sollte auf ein gewisses Maß an Zurückhaltung geachtet werden. Zu schnell zu viel zu wollen, kann ebenso nachteilig wirken wie künstlich aufrechterhaltene Harmonie. Schlägt einem trotz aller Bemühungen seitens des Kindes Wut und Eifersucht entgegen, darf das keinesfalls persönlich genommen werden. Die kindlichen Gefühle sind legitim und benötigen ein Ventil. Erwachsene sollten es schaffen, Verständnis für solche Emotionen zu zeigen, auch wenn es manchmal schwer fällt. Ein respektvoller Umgang ist das A & O.
Patchwork ist organisatorisch wie emotional fordernd. Bis im neuen Familiengefüge jeder seine Rolle gefunden hat, vergeht Zeit. Patchwork ist immer als Prozess zu sehen. Übergänge so sanft wie möglich zu gestalten, ist sinnvoll. In jedem Fall sollte die Erziehungsrolle gerade in der Anfangszeit beim leiblichen Elternteil liegen, um Dynamiken nicht unnötig zu verstärken.8
Patchwork ist ein Prozess
Patchwork als solches ist ein Prozess, der Schönes beinhaltet, doch ebenso Schwierigkeiten birgt. Gerade die Anfangsphase ist fordernd. Während Erwachsene frisch verliebt auf Wolke sieben schweben, ist der Nachwuchs häufig noch traumatisiert und trauert der einstigen Kernfamilie nach. Da sind Konflikte vorprogrammiert! Wichtig ist es, ausreichend Zeit und Raum für ein entspanntes Kennenlernen zu schaffen. Weder sollte man Kinder in Bezug auf die neue Partnerschaft außen vor lassen, noch überfordern, indem man ihnen zu viel zumutet. Dass der neue Partner zunächst als Konkurrenz oder Bedrohung wahrgenommen wird, ist verständlich. Ein achtsames, dem Kind zugewandtes Verhalten hilft, Gefühle wie Eifersucht und Konkurrenz ein wenig abzufangen.
Dennoch wird er kommen, der Machtkampf, denn schließlich geht es darum, (neue) Rollen zu finden und seinen Platz in der Patchworkfamilie zu erobern. Da ist Auseinandersetzung nicht zu vermeiden, denn schließlich treffen Bedürfnisse und Ansprüche ganz unterschiedlicher Personen aufeinander. Damit Rollen und Grenzen gut ausgelotet werden können, ist es wichtig, einen sicheren Raum zu schaffen sowie empathisch und fair zu bleiben. Gelingt der (Zusammen-)Findungsprozess gut, werden sich die Wogen glätten. Man wächst als Familie zusammen und schafft sich seine eigenen Regeln und Rituale.9
Patchworkfamilien: Diese Probleme können auftauchen
Das gesellschaftliche Bild der Patchworkfamilie wird oftmals idealisiert. Die Realität sieht anders aus. Patchwork ist immer damit verbunden, dass in vergangenen Zeiten etwas zerbrochen ist. Damit gehen oftmals Verletzungen, (rechtliche) Unsicherheiten und Überforderung einher. Solches Leid kann zur Zerreißprobe werden. Zudem kommt auch der ganz normale Alltag ins Spiel. Wer gehört zu wem? Dürfen Stiefeltern erziehen? In der Realität handeln viele Betroffene entgegen ihrer Bedürfnisse, schlucken Ärger hinunter, um Eskalation zu vermeiden. Rollen sind nicht mehr klar verteilt. Das sorgt für Verunsicherung und für ein Gefühl des Verlorenseins. Gesprochen wird über solche Probleme leider viel zu wenig. Schließlich möchte man das Idyll der glücklichen Familie aufrechterhalten. Schwierigkeiten in Patchworkfamilien – durchaus ein Tabu!10
Nicht selten kommt es vor, dass Kinder – ob bewusst oder unbewusst – gegen den neuen Partner intrigieren, weil sie die Trennung der Eltern noch nicht verarbeitet haben. Sind Stiefmutter oder -vater dann auch noch zu präsent, kann das durchaus für Widerstand sorgen.11 Der innere Konflikt, den das Kind mit sich ausmachen muss, überträgt sich auf die neue Familienkonstellation. Loyalitätskonflikte, Verlustängste, Konkurrenzdenken – all das wirkt sich negativ aus. Und auch die Gefühle der Erwachsenen tragen zur Dynamik bei.
Patchwork: Schwierigkeiten anpacken
Patchwork als dynamische, fordernde Lebenssituation benötigt Unterstützung und das durchaus auch von außen. Psychologische Beratung, Mediation, Erziehungsberatung – all das kann dazu beitragen, gute Rahmenbedingungen für getrennte Eltern zu schaffen. Unbedingt darf das als Aufgabe der Politik gesehen werden, denn immerhin nimmt Patchwork auch Einfluss auf den staatlichen Bereich (Bildung, Arbeit).12
Wichtig ist es, sich bewusst zu machen, dass sich Dynamiken und Probleme durch die Patchworksituation nicht einfach in Wohlgefallen auflösen werden. Viel mehr muss man Schwierigkeiten aktiv angehen. Da sind Geduld und Kommunikation gefragt! Man muss der Sache Zeit geben und dabei so feinfühlig und intuitiv wie möglich agieren. Sich Hilfe von außen zu holen (Selbsthilfegruppen, Erziehungsberatung, Mediation) ist dabei ganz bestimmt keine Schande, ganz im Gegenteil: Oftmals ist ein objektiver Blick von außen sogar ausgesprochen hilfreich!
Patchworkfamilien: Das sind die Vorteile
Sicher, Patchwork mag durchaus mit Anstrengung verbunden sein. Gelingt der Prozess jedoch, sind mit diesem ganz speziellen Familiensystem viele Vorteile verbunden. Nicht nur schafft funktionierendes Patchwork viele Bezugspersonen, auf die man zurückgreifen kann, es trägt außerdem zur Entwicklung einer Vielzahl von sozialen Kompetenzen bei:
- Verantwortungsgefühl
- Selbständigkeit
- Konfliktverhalten13
- Flexibilität
- Anpassungsfähigkeit
- Durchsetzungsvermögen
- Kommunikationsfähigkeit
- Empathie14
So kann Patchwork gelingen: Tipps für den Alltag
Patchwork ist gesellschaftliche Realität und hält so manche Tücken und Schwierigkeiten bereit. Klappt der Prozess jedoch und rauft man sich als Familie zusammen, birgt das viele Chancen und Vorteile. Einige Handlungsempfehlungen, wie Patchwork (besser) gelingen kann, haben wir deshalb für Sie auf Lager:
Patchwork braucht Zeit, Geduld, Flexibilität und eine gehörige Portion Empathie. Kinder müssen die Gewissheit haben, dass sie in beiden Haushalten, also bei Mama UND bei Papa, willkommen sind und liebevolle Zuwendung erfahren. Eine freundschaftliche oder aber zumindest wertschätzende Kooperation zwischen beiden Elternteilen ist also unbedingt notwendig.15
Rituale zu schaffen, sorgt für Orientierung. Sie helfen dem Kind, sich sicher und geborgen zu fühlen. Zudem haben sie etwas Verbindendes. So können verschiedene Rituale beider Familien zusammengewürfelt werden und/oder eigene gefunden werden.16
Vor allem zu Beginn sollten sich neue Partner etwas zurückhalten, um das Kind nicht zu überfordern. Die Erziehung sollte vorrangig dem leiblichen Elternteil obliegen, zudem ist es natürlich nicht angezeigt, den Vater/die Mutter zu ersetzen, so diese(r) vorhanden ist. Konflikte dürfen keinesfalls unter den Teppich gekehrt werden, dort lösen sie sich im Regelfall nicht in Luft auf. Es ist wichtig, in Kommunikation zu treten und Unstimmigkeiten anzusprechen. Erst dadurch lassen sich Dynamiken durchbrechen. Eine Möglichkeit zur geregelten Kommunikation bieten Familienkonferenzen. In sehr festgefahrenen Situationen kann auch eine Mediation helfen.
Über den abwesenden Elternteil darf nicht abwertend gesprochen werden. Das stürzt das Kind in (unnötige) Loyalitätskonflikte.
In Patchworkfamilien gilt dasselbe wie in anderen Familien auch: Von Zeit zu Zeit sollte man sich Zeit für die Partnerschaft nehmen – ganz ohne Kinder!
Quellen anzeigen
Daniela Jarosz ist Sonder- und Heilpädagogin. Während des Studiums hat sie sich intensiv mit Inhalten aus Medizin und Psychologie auseinandergesetzt. Sie arbeitet seit vielen Jahren im psychosozialen Feld und fühlt sich außerdem in der freiberuflichen Tätigkeit als Autorin zuhause. Im redaktionellen Bereich hat sie sich auf die Fachrichtungen Medizin, Gesundheit, Nachhaltigkeit, Work-Life-Balance sowie Kinder und Familie spezialisiert.