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Ruhe, bitte! Wenn Lärm uns auf die Nerven geht und krank macht

Kommentar schreiben Aktualisiert am 25. Juli 2016

Auf der nahe gelegenen Ausfallstraße rauscht beständig der Autoverkehr vorbei. Der Nachbar mäht mal wieder unter ohrenbetäubendem Knattern seinen Rasen, auf der anderen Seite röhrt der Laubbläser. Die Baustelle in der Nachbarschaft raubt uns bald den letzten Nerv. Und wer besonderes Pech hat, lebt in der Nähe eines großen Flughafens und muss sich täglich x-mal von Starts und Landungen der Düsenjets martern lassen.

Aaaah – wie wunderbar! In der Luft nur Vogelgezwitscher und das leise Rascheln der Bäume. Sachtes Meeresrauschen begleitet unsere vorbeiziehenden Gedanken. Am Gipfel des Berges scheint die Welt stillzustehen. Ach, wie wohltuend ist Ruhe!

Stille ist Mangelware

Doch absolute Stille haben viele lärmgeplagte Menschen seit Jahrzehnten nicht mehr erlebt. Laute Geräusche umgeben uns tagtäglich, und selbst wenn wir glauben, sie gar nicht mehr zu hören: Sie wirken auf uns ein und lassen Gehirn, Herz, Kreislauf und Psyche leiden. Sobald wir Geräusche, die uns tagtäglich umgeben, als lästig empfinden, bezeichnen wir sie als „Lärm“. Und an Lärm kann man sich nicht gewöhnen – da sind sich alle Fachleute einig.

Umfragen und Untersuchungen bringen beunruhigende Zahlen hervor. So hat etwa eine Umfrage des Umweltbundesamtes ergeben, dass sich gut die Hälfte der Bevölkerung in ihrem Wohnbereich vom Lärm des Straßenverkehrs gestört oder sogar belästigt fühlt. Schienenverkehr nervt jeden Dritten, Fluglärm etwa ein Fünftel aller Befragten. Das Helmholtz Zentrum in München, ein führendes Forschungszentrum für Gesundheit und Umwelt, hat herausgefunden, dass rund fünf Millionen Arbeitnehmer in Deutschland an ihrem Arbeitsplatz so großem Lärm ausgesetzt sind, dass ihr Gehör Schaden zu nehmen droht.

Wie hoch sind die Geräuschpegel tatsächlich?

An einer stark befahrenen Straße herrscht ein Lärmpegel von 70 bis 80 Dezibel. Ein Lastwagen, der direkt an uns vorbeifährt, beschallt uns mit rund 90 Dezibel, ein Flugzeug, das in unserer Hörweite startet, mit bis zu 130 Dezibel. Trötet in unserer Nähe eine Autohupe, haben wir es mit etwa 100 Dezibel zu tun, ebenso wie bei einem Rasenmäher – der jedoch meist noch deutlich leiser ist als der bei vielen verhasste Laubbläser. Dagegen diese Zahlen: Ab 80 Dezibel ist bereits unser Gehör gefährdet. Und ab einer Schallbelastung von 85 Dezibel ist es am Arbeitsplatz vorgeschrieben, einen Gehörschutz zur Verfügung zu stellen.

Ab wann wird aus Geräuschen Lärm?

Die Dezibel-Zahl allein ist jedoch nicht entscheidend. Experten sprechen erst dann von Lärm, wenn sich der Betroffene durch das entsprechende Geräusch tatsächlich belästigt und beeinträchtigt fühlt – so sehr, dass der unerwünschte Schall auf Dauer unser Wohlbefinden, unsere Leistungsfähigkeit und letztlich auch unsere Gesundheit beeinträchtigt.

Wann und wie sehr wir uns gestört fühlen, das wiederum hängt von vielen Faktoren ab, etwa von der Situation, in der wir uns gerade befinden und von unserem Allgemeinbefinden – wer entspannt ist, fühlt sich nicht so leicht gestört wie jemand, der ohnehin nervlich belastet ist. So kann zum Beispiel ein Telefongespräch des Sitznachbarn im Zug extrem nervig sein, wenn man gerade ein paar Unterlagen durchsehen will. Reist man aber ganz entspannt im Zug in die Ferien, lauscht man dem Gespräch vielleicht sogar interessiert oder belustigt und fühlt sich von dem Geplapper überhaupt nicht gestört. Auch ein weiteres Beispiel macht klar, wie subjektiv die Beurteilung von Lärm ist. Wenn wir unseren Nachbarn nicht mögen, werden wir ihm das Rasenmähen sicherlich eher übel nehmen als wenn wir gut leiden können. In diesem Fall wird die Lärmbelastung als deutlich geringer wahrgenommen. Besonders anfällig für Lärm sind wir auch dann, wenn die störenden Geräusche uns in unserer Arbeit unterbrechen – vor allem, wenn wir ohnehin schon unter (Zeit-)Druck stehen.

Gibt es Geräusche, die wirklich jedem auf die Nerven gehen?

Der Psychologe und Lärmwirkungsforscher Jürgen Hellbrück nennt in einem Gespräch mit SPIEGEL ONLINE Geräusche, die für alle Menschen unangenehm sind, selbst wenn sie im mittleren oder sogar unteren Dezibel-Bereich liegen. Dazu gehören Hellbrück zufolge etwa das scharfe Kratzen von Kreide oder Fingernägeln auf einer Tafel oder raue Geräusche wie etwa der charakteristische „Sound“ eines Dieselmotors. Interessanterweise schließt Hellbrücke dabei nicht aus, dass solche scharfen und rauen Geräusche aus evolutionären Gründen so unangenehm für den Menschen sind. Scharfe Geräusche hätten einen hohen Anteil an hohen Frequenzen und damit deutliche Signalwirkung – ähnlich wie Todesschreie von Tieren oder Babyweinen. Raue Geräusche ähnelten z.B. einem Knurren und könnten früher einmal ein Zeichen für sich nähernde gefährliche Tiere gewesen sein.

Manches Lärmempfinden, so Hellbrück, hat wohl auch mit Territorialverhalten zu tun. Wer uns in unserer eigenen Wohnung stört, den empfinden wir instinktiv als Angreifer, der die Grenze zu unserem Territorium, zu unserer Privatsphäre überschreitet. Außerdem sei bei Lärmverursachern vermutlich die Fähigkeit zur Empathie wenig ausgeprägt, meint Hellbrück. Denn wer empathisch ist, also sich gut in andere hineinfühlen könne, dem sei es selbst auch eher unangenehm, andere mit Lärm zu belästigen. Umgekehrt seien lärmempfindliche Menschen möglicherweise auch die empathischeren Menschen – sie wüssten, wie sehr Lärm anderen Menschen zusetzen kann, und versuchten daher, solche Belästigungen zu vermeiden.

Was bewirkt der Lärm im Körper?

Die menschlichen Ohren sind 24 Stunden lang ohne Pause auf Empfang geschaltet. Etwa 15.000 Hörzellen im Ohrinneren fangen die Schallwellen jedes Tons ab, wandeln sie in Signale um, die wiederum im Gehirn landen und dort bewertet werden.

Lärm kann zunächst einmal das Gehör selbst schädigen. Auch wenn man nur kurz einem sehr lauten Geräusch (ab etwa 120 Dezibel) ausgesetzt ist, kann schon ein akuter  Hörschaden, etwa vorübergehende Schwerhörigkeit oder Ohrensausen und Tinnitus, die Folge sein. Zwar kann sich das Ohr von einem solchen einmaligen „Schock“ wieder erholen. Wird der Lärm aber zum Dauerzustand, kann es schon bei niedrigeren Dezibelzahlen gefährlich werden und ein anhaltender Hörschaden drohen.

Lärm kann sich zudem auch auf den ganzen Körper auswirken – selbst wenn er unter einem Pegel von 85 Dezibel liegt und gar nicht als belastend wahrgenommen wird. Der Kardiologe Stefan Kääb von der Münchner Ludwig-Maximilians-Universität bezeichnet Lärm als „unabhängigen Risikofaktor für Herz-Kreislauf-Erkrankungen". Der Krach löse Stressreaktionen aus, verstärke die Bildung von Hormonen wie Adrenalin, Noradrenalin und Cortisol und trage damit dazu bei, dass der Blutdruck steige, die Herzfrequenz beschleunigt und die Blutgerinnung aktiviert werde. Es gibt seriöse Schätzungen, wonach in Deutschland etwa 4000 Herzinfarkte jährlich auf Straßenverkehrslärm zurückgeführt werden können. Eine Studie von 2015 an rund einer Million Menschen aus dem Rhein-Main-Gebiet, wo der Frankfurter Flughafen liegt, zeigte, dass bei den von Fluglärm Geplagten auch die Gefahr von Schlaganfällen und Herzschwächen zunimmt.

Laut Stefan Kääb laufen die gefährlichen Vorgänge im Körper selbst dann ab, wenn den Betroffenen der Lärm nicht bewusst sei oder gar nicht als störend empfunden werde, z.B. während des Schlafs. Er und andere Experten betonen, dass nächtlicher Lärm besonders belastet, da die Ohren während des Schlafes besonders sensibel reagieren. Zudem würden Stresshormone auch bei Schlafenden ausgeschüttet. Während der Nacht könnten daher schon Pegel ab 40 Dezibel der Gesundheit schaden.

Auch auf Kinder, die selbst oft so unbekümmert laut sind, scheint Dauerlärm schädlich zu wirken. Studien der vergangenen Jahre zeigten verschiedene Auswirkungen auf die Gehirnfunktion. So wies eine Studie mit neun- bis zehn-jährigen Kindern darauf hin, dass sich bei ihnen Lernfähigkeit und Gedächtnis verschlechterten, wenn ihre Schulen in einem Gebiet liegen, das von Fluglärm betroffen ist.

Nicht zuletzt kann chronischer Lärm auch der Psyche schaden. In vielen Fällen reagieren zunächst mit Aggression, dann mit Hilflosigkeit und folglich mit Depression auf dauerhafte unerwünschte Beschallung.

Kann man etwas tun, um sich am Lärm weniger zu stören …

Experten sind sich zwar einig, dass man sich an Lärm nicht gewöhnen kann, dass also die Stressreaktionen des Körpers und der Seele anhalten, auch wenn wir glauben, dass uns der Lärm gar nicht mehr stört. Doch kann man durchaus bewusst etwas tun, um sich weniger belästigt zu fühlen. So sollte man nach Ansicht einiger Experten wie des Lärmwirkungsforschers Jürgen Hellbrück versuchen, die Lärmquelle bewusst anders zu bewerten. So könne man sich zum Beispiel sagen, dass der Baulärm nötig sei und dazu führe, dass bald ein schönes neues Haus in der Nachbarschaft stehe. Oder dass der Rasen nun einmal gemäht werden müsse, auch wenn er dem unsympathischen Nachbarn gehöre. Vor allem bei zeitlich begrenztem Lärm komme man auf diese Weise besser zurecht. Wie wirksam solche Maßnahmen sind, muss wohl jeder selbst herausfinden.

… oder sich gezielt vor Lärm schützen?

Die Ohren lassen sich nun mal nicht schließen wie die Augen. Das heißt, so ganz können wir unerwünschtem Lärm nicht entrinnen, wenn wir nicht die Möglichkeit haben, auf eine Bergwiese oder einsame Insel zu fliehen. Ein paar Tipps gibt es dennoch. So sollte das Schlafzimmer möglichst immer auf der ruhigsten Seite des Hauses oder der Wohnung eingerichtet werden und das Schlafzimmerfenster nachts notfalls geschlossen bleiben. Beim Musikhören sollte man auf eine angenehme Lautstärke achten und bei einem Live-Konzert Ohrenstöpsel tragen. Wer ein lautes Gerät wie etwa einen Rasenmäher oder eine Kreissäge benutzt, sollte immer einen Hörschutz benutzen – und, wenn möglich, auf eine leisere Maschine umsteigen. Auch eine „Dauerberieselung“ durch Radio, TV und PC halten Experten für schädlich und raten, immer wieder einmal jede Geräuschquelle in der häuslichen Umgebung abzuschalten. Und nicht zuletzt sollte jeder auch darauf achten, selbst keinen unnötigen Lärm zu verursachen. Also für kurze Wege lieber das Fahrrad statt das Auto nehmen oder zu Fuß gehen. „Kavalierstarts“ und röhrendes Motoraufheulen vermeiden. Und auch auf den vermeintlich so „nützlichen“ Laubbläser lieber verzichten und zum Besen greifen – das tut dem ganzen Körper gut.

Wie gut, wenn es dann immer öfter heißt: Herrlich, diese Ruhe!

Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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