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Wenn das „Baby Brain“ Kopfzerbrechen macht: Schwangerschaftsdemenz und was wirklich dahintersteckt
Viele schwangere und auch stillende Frauen wissen ein leidvolles Lied davon zu singen: Während der Bauch sich zunehmend rundet, scheint das Gedächtnis rätselhafterweise immer mehr nachzulassen. Wo habe ich bloß meine Brille hingelegt? Ach du liebe Zeit – den Zahnarzttermin hab ich ja völlig vergessen! Was riecht denn hier so angebrannt? Oh Schreck, der Braten im Ofen! Und meine Vitamintabletten – hab ich die heute eigentlich schon genommen?
Probleme mit dem Kurzzeitgedächtnis, dem Langzeitgedächtnis und der Konzentrationsfähigkeit – einige Frauen nehmen´s mit Humor, nicht wenige Frauen wirft jedoch diese Zerstreutheit und Vergesslichkeit ganz schön aus der Bahn, waren sie doch bisher in ihrem Alltag perfekt organisiert. Gut strukturierte, ansonsten stets pünktliche Frauen, die kaum jemals einen Termin verpasst oder ein Alltagsritual versäumt haben, werden zu Opfern ihrer eigenen Schusseligkeit. Und wenn sich dann auch noch zwischendurch Wortfindungsschwierigkeiten einstellen, beginnen viele, sich ernsthafte Sorgen um ihre geistige Gesundheit zu machen. Was ist bloß los?
Keine Sorge, beruhigen Experten. Auch wenn es sich bei den geschilderten Phänomenen um die typischen, häufigen Symptome einer sogenannten „Schwangerschaftsdemenz“ handelt – von einer wirklichen Demenz kann hier absolut keine Rede sein. Viele Mediziner lehnen den Begriff als solchen ab – und benutzen dafür lieber die englische und viel sympathischere Variante: „Baby Brain“.
Schwangerschaftsdemenz - der Begriff führt in die Irre
Während bei der echten Demenz Gehirnzellen unwiederbringlich absterben und die Betroffenen ernsthaft und unheilbar erkrankt sind, ist die Schwangerschaftsdemenz eine vorübergehende Erscheinung, die nach der Geburt von selbst wieder verschwindet – ohne dass Gehirnzellen verloren gehen oder weitere Schäden zurückbleiben. Während sich zum Beispiel bei der verbreiteten Altersdemenz in der Gehirnstruktur der Betroffenen degenerative Veränderungen nachweisen lassen, ist dies beim „Baby Brain“ nicht der Fall. Im Gegenteil: Studien haben ergeben, dass das Hirnvolumen bei jungen Müttern sogar erkennbar zunimmt!Ein Fall für die Wissenschaft
Die Schwangerschaftsdemenz – auch Stilldemenz genannt, da die Symptome auch stillende Frauen betreffen – ist alles andere als ein eingebildeter Gedächtnisschwund. Das Phänomen ist tatsächlich messbar. Bekannt ist, dass etwa acht von zehn schwangeren und stillenden Frauen damit zu kämpfen haben. Wissenschaftler befassen sich bereits seit den 1990er-Jahren mit diesem spezifischen „Gedächtnisschwund“. In mehreren Ländern der Welt wurden große Untersuchungen durchgeführt, die bestätigen, dass werdende und frischgebackene Mütter tatsächlich Defizite in der Gedächtnisleistung aufweisen. So zeigen Studien aus den Jahren 1993 und 2007, dass schwangere Frauen kurz zuvor auswendig gelernte Wörter wesentlich schneller wieder vergaßen bzw. schlechter aus dem Gedächtnis aufzählen konnten als Frauen, die kein Kind erwarteten. Dabei scheint in den letzten Wochen vor der Geburt die Vergesslichkeit größer zu sein als in den früheren Stadien der Schwangerschaft.Und die Ursachen? Sind wieder mal die Hormone schuld?
Viele Experten vermuten es, zahlreiche Studien scheinen es zu bestätigen: Bei schwangeren und stillenden Frauen sorgen nicht zuletzt auch die Hormone dafür, dass es im Gehirn chaotischer abläuft als sonst. Vor allem kurz vor Ende der Schwangerschaft und nach der Geburt wirbeln die Hormone im weiblichen Körper noch einmal vieles durcheinander. Jetzt sprechen wir nicht mehr von der Schwangerschafts-, sondern von der Stilldemenz. Nach der Entbindung fallen die Spiegel der Hormone Progesteron und Östrogen deutlich ab, dagegen steigt der Anteil von Oxytocin und Prolaktin an. Prolaktin, das der Körper schon während der Schwangerschaft für die Milchbildung produziert, und Oxytocin sind sogenannte „Bindungshormone“. Sie sorgen also dafür, dass sich die Mutter nun vor allem auf ihr Baby konzentriert – so sehr und ausschließlich, dass zuvor ganz normale Alltagsabläufe als „nicht mehr wichtig“ eingeordnet und daher oft einfach vergessen werden. Hier setzt wohl die Natur ganz von allein die richtigen Prioritäten – schließlich schützt die Fokussierung der Mutter auf ihr Kind das Neugeborene und festigt die enge Bindung in den wichtigen ersten Lebenswochen des Babys. Auch diese Abläufe werden von wissenschaftlichen Untersuchungen bestätigt: Wie festgestellt wurde, wächst nach der Entbindung das Gehirnvolumen vor allem in denjenigen Hirnregionen, die für mütterliches Engagement, die Verarbeitung von Emotionen und für Problemlösungen wichtig sind. Was auch der Partner, die Geschwister des Neugeborenen, andere Verwandte und auch Freunde häufig feststellen müssen: Mutter und Neugeborenes leben jetzt in einer Art „Mikrokosmos“, in dem alles andere weitgehend ausgeblendet wird. Ein Arzttermin, eine Verabredung mit der Freundin? Vergessen! Daneben scheint auch Kortisol, ein sogenanntes „Stresshormon“, gerade für die Stilldemenz mitverantwortlich zu sein. Ist das Baby auf der Welt, kommt bekanntlich der erholsame Schlaf oft zu kurz. Bei Schlafmangel und mit der ständigen Müdigkeit steigt der Kortisolspiegel im Körper deutlich an, und mit ihm die Vergesslichkeit, Unkonzentriertheit, manchmal auch Ängstlichkeit. Auch weitere äußere Faktoren, z.B. Ängste vor der Verantwortung der Mutterschaft, Probleme in der Beziehung oder existenzielle Sorgen erhöhen den Stresspegel und damit auch den Kortisolspiegel im Körper. Frauen können allerdings selbst dafür sorgen, dass das Kortisol wieder abgebaut wird: Durch Stillen sinkt der Kortisolwert deutlich ab. Einmal ganz abgesehen vom Spiel der Hormone – in der Stillzeit wie auch in der Schwangerschaft ist die allgemeine Beanspruchung der Frauen nicht zu unterschätzen, die sich aus der Umstellung auf eine komplett neue Lebenssituation ergibt. Der Blick in eine teilweise ungewisse Zukunft, viele Fragen, die sich in dieser Phase stellen, die Notwendigkeit, das Leben komplett auf die Bedürfnisse des Babys auszurichten, kein geregelter Tagesablauf mehr – all das zusammen kann die Symptome des „Baby Brains“ noch zusätzlich verstärken. Und ist natürlich in dieser Zeit vollkommen nachvollziehbar und normal!Kann auch eine ernsthafte Erkrankung dahinter stecken?
Meist ist das nicht der Fall – in aller Regel ist die sogenannte Schwangerschaftsdemenz alles andere als eine echte Demenz, also eine völlig harmlose Erscheinung. Nur Frauen, die neben Vergesslichkeit und Unkonzentriertheit auch andere Symptome an sich feststellen, sollten ihren Arzt um Rat fragen: Schwangere und stillende Frauen, die sich außerdem noch anhaltend traurig, mutlos, überfordert und antriebslos fühlen, könnten eventuell von einer Depression betroffen sein.Wie rückt frau einer Schwangerschaftsdemenz zu Leibe?
Keine Angst: Dem „Baby Brain“ ist keine Frau ganz einfach nur ausgeliefert! Jede schwangere Frau und jede stillende Mutter, die damit zu kämpfen hat, kann etwas tun, um sich nicht komplett davon beherrschen zu lassen. Hier ein paar Tipps, die sich garantiert bewähren:- Vermeiden Sie es, sich jetzt zu überfordern. Seien Sie nett sich selbst gegenüber. Machen Sie sich bewusst, dass Sie sich derzeit in einer Ausnahmesituation befinden, in der Sie nicht perfekt funktionieren müssen!
- Akzeptieren Sie, dass Ihr Gedächtnis momentan nicht so fit ist wie sonst, und notieren Sie sich Wichtiges z.B. auf Notizzetteln oder Post-its, die Sie an gut sichtbaren Stellen anbringen können. Und denken Sie daran: Sie brauchen sich nicht zu schämen, dass Sie jetzt ein paar Extra-Gedächtnisstützen brauchen!
- Geben Sie, wo es nur geht, Aufgaben ab, z.B. im Haushalt oder bei der Alltagsorganisation. Ihr Partner, aber auch andere Verwandte oder Freunde unterstützen Sie jetzt sicher gerne!
- Sorgen Sie, soweit möglich, für ausreichend Ruhepausen und genug Schlaf. Legen Sie sich möglichst immer dann hin, wenn auch Ihr Baby schläft, anstatt die Schlafphasen Ihres Kindes für die Erledigung von Alltagsaufgaben zu nutzen. Ihr Körper braucht seine Kraft jetzt vor allem dafür, das Baby gut zu versorgen – versorgen Sie dafür auch Ihren Körper gut und gönnen Sie sich notwendige Pausen.
- Achten Sie darauf, dass Sie sich gut und ausgewogen ernähren und vor allem ausreichend trinken: mindestens zwei Liter Wasser oder ungesüßte Tees sollten es pro Tag sein. Mit Ihrer Ernährung sollten Sie genügend Vitamine, Mineralstoffen und gesunde Fette zu sich nehmen. Als gesunde Snacks zwischendurch, die auch die Hirnfunktion unterstützen, eignen sich z.B. Nüsse besonders gut.
Autor: Helga Boschitz
Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.