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Wenn die innere Welt aus den Fugen gerät: Psychosen

Kommentar schreiben Aktualisiert am 10. Dezember 2018

Stimmen im Kopf, Wahnvorstellungen, Wahrnehmungsstörungen, panische Angst – bei einer Psychose wird das innere Erleben des Betroffenen zum Chaos. Eine Psychose ist eine oft vorübergehende, in vielen Fällen aber auch bleibende und/oder in Episoden auftretende schwere psychische Störung, die für die Erkrankten die Realität – und damit auch ihr ganzes Leben – stark verändert. Nicht nur die Betroffenen selbst, auch ihre nächsten Angehörigen leiden stark unter einer Psychose, die sehr viele unterschiedliche Gesichter haben kann. Hilfe, Verständnis, ein gutes Netzwerk und die richtige Behandlung – oft eine Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie – sind bei diesen schweren psychischen Erkrankungen besonders wichtig.

 

Männer wie Frauen können von einer Psychose gleichermaßen erfasst werden. Erstaunlich häufig tritt sie auf: Es wird geschätzt, dass etwa drei bis vier Prozent aller Menschen weltweit im Laufe ihres Lebens mindestens einmal eine Psychose durchmachen müssen. Dabei kann diese Erkrankung prinzipiell in jedem Alter auftreten, wobei viele Formen zwischen der Pubertät und etwa Mitte dreißig beginnen. Bei älteren Menschen kommt es vor allem dann zu Psychosen bzw. psychotischen Episoden, wenn innere Erkrankungen oder eine Demenz vorliegen. Auch infolge einer schweren Depression oder anderer psychischer Erkrankungen kann sich mitunter eine Psychose entwickeln.

 

Je nachdem, wie schwer und auffällig sich eine Psychose entwickelt, wird das Leben der Betroffenen mehr oder weniger stark von dieser Erkrankung geprägt. Viele geraten auch in die soziale Isolation, denn viele Gesunde können sich kaum vorstellen, wie dramatisch und lebensverändernd die Symptome einer Psychose oft sind. Nichtbetroffene, die keine Erfahrung mit diesen Erkrankungen haben, fühlen sich durch eine Person, die eine akute Psychose durchlebt, häufig bedroht oder geängstigt und ziehen sich zurück. Andere Außenstehende erleben eine sich „verrückt“ benehmende Person und grenzen diese aus. Entsprechend stark sind die Stigmatisierung und Diskriminierung, denen die Erkrankten oft ausgesetzt sind. Da sich in vielen Fällen durch Ausgrenzung, Mobbing u. Ä. die psychotischen Symptome wieder einstellen bzw. verschlimmern können, kommt dem Kampf gegen die Stigmatisierung psychisch Kranker in der Bevölkerung eine immer größere Bedeutung zu.

 

Frühe Anzeichen erkennen und ernst nehmen

 

Es ist sicher nicht leicht, die frühen Warnzeichen einer Psychose zu erkennen – gerade Angehörigen ohne Erfahrung ist dies oft nicht möglich. Werden die Frühsymptome aber rechtzeitig erkannt, kann der Ausbruch einer Psychose sogar verhindert, zumindest aber ihr Verlauf abgeschwächt werden.

 

Oft kündigt sich eine Psychose nach und nach, manchmal über Jahre hinweg, an. Die ersten Anzeichen (auch „Prodromalsymptome“ genannt) werden meist weder von den Betroffenen noch von den Angehörigen mit Frühsymptomen einer Psychose in Verbindung gebracht. Frühsymptome können u.a. sein, dass sich die betroffene Person immer mehr aus sozialen Kontakten zurückzieht oder Bindungen ganz löst, dass Lebensfreude und Leistungsfähigkeit mehr und mehr abnehmen, dass sich zunehmend Ängste, depressive Stimmungen, Nervosität, Unruhe und Schlafstörungen einstellen.

 

Wenn jemand aus dem Umfeld des Betroffenen Verdacht schöpft, sollte er oder sie auf jeden Fall schnell Hilfe suchen – bei frühzeitiger Hilfe können schwere Störungen oft vermieden werden! Entsprechende professionelle Angebote gibt es z.B. in Früherkennungszentren von psychiatrischen Kliniken, Zentren für seelische Gesundheit und ambulanten Beratungsstellen. Wichtig ist, dass schnell ein Facharzt hinzugezogen wird, der die notwendigen Maßnahmen einleitet und dadurch, im günstigsten Fall, eine stationäre Behandlung überflüssig macht oder deutlich verkürzt. Nicht zuletzt können rechtzeitige Maßnahmen auch einer zunehmenden Isolation und schlimmstenfalls dem sozialen Abstieg entgegenwirken.  

 

Wie Psychosen sich äußern können

 

Psychosen können sehr unterschiedliche Krankheitsbilder entwickeln. Typischerweise leiden Betroffene unter Halluzinationen (Sinnestäuschungen), sehen und erleben also Dinge, die in der Realität gar nicht da sind, oder werden von Wahnvorstellungen geplagt. Oft sind diese Vorstellungen akustischer Art (z.B. Stimmen hören), aber es werden auch Geschmacksrichtungen, Gerüche sowie optische und haptische Eindrücke wahrgenommen, die für andere nicht existent sind. Viele, die gerade eine psychotische Episode durchmachen, beziehen Wahrnehmungen fälschlicherweise auf sich selbst. Auch ein realitätsbezogenes Denken ist in vielen Fällen nicht mehr möglich, wodurch die Erkrankten vollkommen verwirrt oder unkonzentriert erscheinen. Dazu kommen sehr häufig schlimme Ängste bis hin zur Panik sowie sogenannte „Ich-Störungen“. Bei diesen verschwimmen die Grenzen zwischen der eigenen Persönlichkeit und der Umwelt, das Umfeld scheint nicht mehr real, die Betroffenen fühlen sich total entfremdet von sich selbst („Depersonalisation“), wobei sie sich selbst nicht mehr als die Person wahrnehmen, die sie eigentlich sind. Viele meinen, dass die eigenen Gedanken auch von anderen wahrgenommen oder beeinflusst werden können. Parallel zu den typischen psychotischen Symptomen treten sehr oft starke Stimmungsschwankungen bis hin zu absoluter Niedergeschlagenheit, Antriebslosigkeit und Apathie sowie diffuse Ängste auf.

 

Bei den verschiedenen Formen einer Psychose wird zunächst in zwei grobe Kategorien unterteilt: die primäre Psychose (auch nicht-organische oder funktionelle Psychose genannt), bei der keine organische Ursache festgestellt werden kann, und die sekundäre Psychose, die auf einer feststellbaren Ursache beruht, die das Gehirn direkt oder indirekt in Mitleidenschaft zieht. Das kann etwa eine organische Erkrankung wie z.B. Epilepsie oder ein Hirntumor sein, die Einnahme bestimmter Medikamente oder auch Drogen- und Alkoholmissbrauch. Bei den sekundären Psychosen kommt es besonders häufig auch zu Orientierungs-, Gedächtnis- und Bewusstseinsstörungen, während bei einer primären Psychose die psychotischen Symptome (Wahnvorstellungen, Halluzinationen usw.) vorherrschen.

 

„Die eine“ Ursache gibt es oft nicht

 

Wie primäre Psychosen entstehen, ist noch nicht abschließend geklärt. Als sicher gilt, dass manche Menschen wohl besonders „anfällig“ für eine psychotische Erkrankung sind. So treten oft in einer Familie gehäuft Psychosen auf – es kann sich lohnen, dafür mehrere frühere Generationen zu erforschen, denn nicht selten wurden früher psychotische Fälle in der Familie aus Scham verschwiegen und „weggesperrt“. Auch einige „Risiko-Gene“ wurden inzwischen entdeckt, jedoch gelten diese genetischen Faktoren als eher unwesentlich für die Entstehung einer Psychose – sprich: eine Psychose ist keine Erbkrankheit. Derzeit vermuten Experten eher ein sogenanntes „multifaktorielles” Geschehen aus biologischen und psychosozialen Ursachen, gehen also von einem Zusammenwirken verschiedener ursächlicher Faktoren aus. Viele Fachleute sind dabei der Ansicht, dass Phasen von großem psychisch-geistigem und/oder physischem Stress eine wichtige Rolle bei der Entstehung einer Psychose spielen.

 

Unter die beiden Kategorien „Primäre Psychose“ und „Sekundäre Psychose“ fallen nun eine ganze Reihe von psychotischen Störungen (Fachmediziner sprechen dann oft von „Erkrankungen aus dem psychotischen Formenkreis“) mit ihren jeweils unterschiedlichen Krankheitsbildern. Um welche genaue Form es sich handelt, ist oft sehr schwer feststellbar, da die Symptome sich vermischen können und erst einmal eine genauere Beobachtung der Patienten sowie detaillierte Gespräche mit Angehörigen oder anderen Menschen, die den Erkrankten erlebt haben, erfolgen müssen, um eine genaue Diagnose stellen zu können. Fragen wird der Arzt vor allem nach den aktuellen Symptome und Beschwerden, dem Verlauf sowie nach Vorerkrankungen, dem allgemeinen sozialen Umfeld und der aktuellen Lebenssituation.

 

Je erfahrener – und einfühlsamer – ein Psychiater oder Neurologe ist (diese beiden Fachmediziner sind die richtige Adresse bei psychotischen Erkrankungen), desto besser wird er das Geschilderte und Beobachtete einordnen und eine entsprechend differenzierte Diagnose stellen können. Besteht der Verdacht auf eine sekundäre, also organisch bedingte Psychose, müssen natürlich erst einmal eine ganze Reihe von Untersuchungen durchgeführt werden. Denn nur wenn eine organische Ursache ausgeschlossen werden kann, ist eine effektive Behandlung einer primären Psychose möglich. Ist dann die genaue Form der Psychose einmal festgestellt, sollten die Betroffenen und ihre Angehörigen gut in die Behandlung integriert, gut aufgeklärt und zur Mitwirkung aufgefordert werden.   

 

Schizophrenie – die missverstandene Psychose

 

Die häufigste und bekannteste Form einer primären Psychose ist die Schizophrenie, die weltweit verbreitet ist (in armen wie reichen Ländern gleichermaßen) und Menschen aus den unterschiedlichsten Kulturkreisen betrifft. Der Begriff kommt aus dem Altgriechischen und kann in etwa mit „gespaltene Seele“ übersetzt werden. Daher hat sich wohl der (falsche) Eindruck verbreitet, ein an Schizophrenie Erkrankter sei ein Mensch mit zwei Persönlichkeiten, etwa wie der aus Literatur und Film bekannte „Dr. Jekyll/Mr. Hyde“. Doch handelt es sich bei so jemandem vielmehr um eine „multiple Persönlichkeit", eine ganz anders geartete psychische Erkrankung, während „Schizophrenie“ das abwechselnd gestörte und ungestörte Verhalten und Erleben sowie das Auseinanderklaffen von tatsächlicher und erlebter Realität bezeichnet. Gegen die falsche Charakterisierung und die daraus folgenden schlimmen Vorurteile haben die von Schizophrenie Betroffenen oft ebenso zu kämpfen wie gegen die Symptome ihrer Krankheit.

 

Eine Schizophrenie (die ihrerseits wiederum in mehrere Untergruppen unterteilt wird) äußert sich typischerweise in massiven Denk-, Empfindungs- und Wahrnehmungsstörungen. Oft sind die Patienten besonders antriebslos und ihr soziales Verhalten ist stark beeinträchtigt. In der akuten Krankheitsphase erleben die meisten Betroffenen ihre eigenen Gedanken als fremd oder sie glauben, dass andere Menschen „in ihren Kopf hineinschauen“ und ihre Gedanken lesen können. Die Gedanken der Erkrankten geraten immer wieder in Verwirrung und können nicht mehr stringent zu Ende gedacht werden, dazu werden sie von Halluzinationen und bestimmten Wahnideen gequält, hören beispielsweise Stimmen, die tatsächlich gar nicht da sind. Typisch sind auch Störungen in der Motorik und allgemein verlangsamte, manchmal „roboterhafte“ Bewegungen.

 

Eine erste schizophrene Episode beginnt besonders oft bei jungen Erwachsenen ab 18 Jahren bis zum etwa 35. Lebensjahr. Festgestellt wurde bis heute, dass die meisten Ersterkrankungen bei Männern zwischen 20 und 25 Jahren und bei Frauen zwischen 25 und 30 Jahren auftreten, und dass das Risiko, einmal im Leben an einer Form der Schizophrenie zu erkranken, etwa ein Prozent beträgt. Bei etwa einem Drittel aller Fälle tritt nur eine einzige Episode auf, weitere dreißig Prozent erleben über einen längeren Zeitraum mehrere Schübe, zwischen denen die Symptome verschwunden sind. Nur bei den verbleibenden ca. 30 Prozent wird die Schizophrenie chronisch; die Symptome bleiben in diesen Fällen dauerhaft bestehen.  

 

Weil das erste Auftreten einer Schizophrenie oft in eine Phase fällt, in der üblicherweise Berufsausbildungen oder Studien begonnen, Familien gegründet und andere Grundlagen für das spätere Leben geschaffen werden, kann eine schizophrene Erkrankung – wie andere Psychosen auch – die Betroffenen in ihrer Lebensplanung massiv verunsichern und ausbremsen. Zwar kann die Krankheit recht gut behandelt werden, doch ist es trotzdem nicht selten, dass z.B. das gesamte Beziehungsleben mit sozialen Bindungen und die Berufstätigkeit dauerhaft beeinträchtigt werden. Daher führt die Erkrankung häufig in die Berufs- oder Erwerbsunfähigkeit oder auch in eine Frühverrentung.

 

Wie Psychosen behandelt werden können?

 

Viele Psychosen können sehr wirksam therapiert werden; meist ist eine Kombination aus Medikamenten und Psychotherapie das Mittel der Wahl. Bei der Therapie von sekundären Psychosen wird vor allem die Grunderkrankung behandelt bzw. die Ursache behoben. In vielen Fällen ist daher eine sekundäre Psychose leichter zu therapieren als eine primäre Form. Bei akuten primären Psychosen macht oft erst die symptomlindernde Wirkung der Tabletten eine begleitende Psychotherapie möglich. Allerdings können die Medikamente, sogenannte Antipsychotika, vielfältige Nebenwirkungen haben. Deshalb ist eine gründliche Vorbereitung, Begleitung und Nachsorge durch einen Facharzt unabdingbar. Nur ein Spezialist kann über das optimale Medikament und die richtige Dosierung für den jeweiligen Einzelfall entscheiden. Die begleitenden stützenden Gespräche und weiteren Maßnahmen mit dem Therapeuten fördern vor allem das Krankheitsverständnis und deren Bewältigung. In welcher Gewichtung die einzelnen Bestandteile der Gesamttherapie zum Einsatz kommen, ist von Fall zu Fall unterschiedlich und richtet sich nicht zuletzt nach der Ursache der Erkrankung. Weil Menschen, die an einer schwereren Psychose erkrankt sind, oft eine längerfristige Arbeitsunfähigkeit bis hin zur Frühberentung droht, sind für sie neben der therapeutischen Behandlung auch Maßnahmen zur beruflichen Rehabilitation und Wiedereingliederung sowie ggf. auch sozialtherapeutische Behandlungsschritte notwendig.

 

Durchgeführt wird eine Psychose-Therapie – je nach Art und Schwere der Erkrankung – entweder ambulant in der Praxis, in einer Tagesklinik oder, falls nötig, auch stationär in einer Klinik.

 

Auch Angehörige brauchen Hilfe

 

Menschen mit einer Psychose sind neben einer guten Therapie auch auf funktionierende soziale Netzwerke, z.B. durch Familienangehörige, Freunde und auch wohlmeinende Kollegen angewiesen. Allerdings ist der Umgang mit einem nahestehenden Menschen, der von einer akuten Psychose betroffenen ist, oft sehr schwer. Gerade Angehörige sind durch die Erkrankung oft so massiv belastet, dass sie selbst professionelle Hilfe brauchen. Diese gibt es zum Glück an vielen Stellen, etwa in speziellen Aufklärungs- und Trainingsprogrammen, die viele psychiatrische Kliniken anbieten. Auch Selbsthilfegruppen speziell für Angehörige psychisch Kranker können große Erleichterung bringen; solche Gruppen findet man z.B. in Kliniken, Gesundheitsämtern, Volkshochschulen und Selbsthilfegruppen-Netzwerken in größeren Städten. Oft sind die Betroffenen in den Gruppen mit dabei, wichtig ist generell, dass Angehörige die Erkrankten mit einbeziehen, wenn sie selbst Hilfe in Anspruch nehmen.

 

Eine sehr gute Adresse im Internet, die von allen Hilfesuchenden optimal als erste Anlaufstelle genutzt werden kann, ist ein umfassendes Informationsportal, das von Berufsverbänden und Fachgesellschaften für Psychiatrie, Kinder- und Jugendpsychiatrie, Psychotherapie, Psychosomatik, Nervenheilkunde und Neurologie aus Deutschland und der Schweiz herausgegeben wird. Die Adresse: https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org

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Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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