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Wer mehr denkt, ist früher tot? Was ein hochaktives Hirn mit der Lebenserwartung zu tun hat

Kommentar schreiben Aktualisiert am 05. November 2019

Bis ins hohe Alter geistig rege und fit bleiben, wer will das nicht? Um dieses Ziel zu erreichen, empfehlen Mediziner und Altersforscher immer wieder, das Gehirn kontinuierlich auf Trab zu halten, etwa mit Gehirnjogging, dem Erlernen von Fremdsprachen oder eines Musikinstrumentes und anderweitiger geistiger Beschäftigung mit unterschiedlichsten Themen. Jetzt aber schreckt eine aktuelle Studie amerikanischer Forscher auf: Sehr starke Hirnaktivität, so das Ergebnis der Untersuchung auf den Punkt gebracht, könnte die Lebenserwartung deutlich reduzieren. Sollten wir also etwa lieber weniger denken, um möglichst alt zu werden?

 

Ein Team aus Altersforschern der Harvard Medical School, der medizinischen Fakultät der renommierten amerikanischen Harvard-Universität, berichtete in der Fachzeitschrift „Nature“1, dass offenbar ein Zusammenhang zwischen dem Ausmaß der Hirnaktivität und der Lebenserwartung bestehe. Die Wissenschaftler um den Genforscher Bruce Yankner konnten nachweisen, dass die Aktivität der Neuronen (Nervenzellen) im Gehirn offensichtlich einen bedeutenden Einfluss auf die Lebenserwartung von Menschen hat. Kein Wunder, dass das Thema auch hierzulande in allen bedeutenden Medien besprochen wurde, unter anderem in der „Welt“2.

 

Schlüsselerkenntnisse im Kampf gegen neurodegenerative Krankheiten?

 

Wie im Zeitungsartikel dargestellt wird, sind die Erkenntnisse vor allem deshalb elektrisierend, weil sie möglicherweise neue Impulse für die Behandlung von weitverbreiteten neuronalen Erkrankungen wie Alzheimer, anderen Demenzformen oder dem Parkinson-Syndrom liefern können. Denn bekannt ist, dass unter anderem die Alzheimer-Krankheit mit einer besonders hohen Aktivität der Neuronen im Hirn einhergeht. In einem Bericht des Mitteldeutschen Rundfunk MDR3 wird zwar betont, dass nach Ansicht der Forscher die Studienergebnisse keine Rückschlüsse zuließen, „ob oder wie sich Gedanken, Persönlichkeit oder Verhalten einer Person auf ihre Lebenserwartung auswirken“. Allerdings wiesen die Autoren der Studie auch darauf hin, heißt es im MDR-Bericht weiter, „dass bestimmte Medikamente, Verhaltensweisen oder etwa Meditation die Lebensdauer verlängern können, indem sie die neuronale Aktivität modulieren.“

 

Eine große Rolle vor allem hinsichtlich der Entwicklung neuer Medikamente kann wohl ein bestimmtes Protein namens REST spielen. Dieses Eiweißteilchen, das zunächst im vorgeburtlichen Stadium maßgeblich an der Entwicklung des Gehirns beteiligt ist, kann offenbar übermäßige Hirnaktivitäten unterdrücken. Umgekehrt können, wenn REST in nicht ausreichender Konzentration in den Hirnzellen vorhanden ist, die neuronalen Aktivitäten explosionsartig zunehmen. Das Forscherteam um Bruce Yankner hatte bereits im Jahr 2014 gezeigt, dass REST das menschliche Gehirn vor Demenzerkrankungen schützen kann, wie damals unter anderem der Spiegel berichtete4.

 

REST: das Protein, das vor Demenz schützen kann

 

Demnach könnte REST eine zentrale Rolle bei der Entstehung der Altersdemenz spielen. Im Gehirn von Menschen mit Erkrankungen wie Alzheimer finden sich massenhaft fehlerhafte Proteine, die allerdings auch im Gehirn von gesunden Menschen vorhanden sind. Um die Frage zu beantworten, weshalb manche Menschen mit diesen „Alzheimer-Proteinen“ erkranken und andere wieder nicht, untersuchten die Altersforscher der Harvard Medical School zahlreiche Gehirne älterer Menschen und entdeckten, dass REST eine regulierende Funktion übernimmt.

 

Es kann alternde Gehirnzellen vor mangelhaften Proteinen bewahren, indem es schützende Gene aktiviert und schädigende Gene ausschaltet. So ergaben bestimmte Experimente, dass Hirnzellen, in deren Kern REST nicht vorhanden war, auf Angriffe schädliche Stoffe im Gehirn deutlich empfindlicher reagierten. Zusätzliche Tests an Mäusen, die REST nicht im Gehirn bilden können, zeigten, dass bei den älteren Tieren zunehmend Zellen starben, und zwar in genau den Hirnregionen, in denen sie auch bei einer Alzheimer-Erkrankung sterben. Schließlich nahmen die Forscher Untersuchungen an Gehirnen verstorbener Menschen vor, die aus jahrelangen Studien mit tausenden alternden Menschen stammten. Dabei stellte sich heraus, dass die Gehirne von gesunden alten Menschen deutlich größere Mengen an REST enthielten als die junger, gesunder Probanden.

 

Bis zum Durchbruch noch ein weiter Weg

 

Liegen neuronale Erkrankungen vor, sieht es mit REST schon ganz anders aus: So wiesen etwa Alzheimer-Patienten einen besonders geringen REST-Anteil auf. Und: Bei gesunden Personen, die die Alzheimer-typischen fehlerhaften Proteine im Hirn hatten, war dreimal mehr REST im Zellkern ihrer Neuronen vorhanden als bei den erkrankten Personen der Vergleichsgruppe. Somit scheint es erwiesen zu sein, dass ein niedriger Gehalt am schützenden Protein REST mit einem Gedächtnisverlust bzw. einer Demenzerkrankung in engem Zusammenhang steht.

 

Harvard-Studienleiter Bruce Yankner zufolge muss noch erforscht werden, wie genau REST im Zellkern gesteuert werde, um mithilfe von gezielt entwickelten Medikamenten die Menge an REST im Gehirn von Alzheimerpatienten zu erhöhen. Außerdem könne der REST-Gehalt in den Neuronen irgendwann „als Marker dienen, bestimmte neurodegenerative Erkrankungen im Gehirn frühzeitig zu erkennen.“ Bis es soweit sei, schränkten die Wissenschaftler jedoch schon damals ein, sei es noch ein weiter Weg – vor allem weil im Zellkern von Neuronen lebender Menschen der REST-Gehalt bisher nicht gemessen werden kann.

 

Bis heute – 2019 – haben die Wissenschaftler auf die genannten Fragestellungen noch keine Antwort gefunden. Doch sie bleiben dran – die aktuellen Erkenntnisse befassen sich ja nun wieder mit der Schutzfunktion von REST. Am Ende der neuesten umfassenden Forschungen steht die aktuelle Erkenntnis: Ist REST im Gehirn nur wenig oder gar nicht aktiv, hat dies verstärkte neuronale Aktivitäten zur Folge, was wiederum mit einem früheren Tod zusammenhängt. Ist der REST-Gehalt im Gehirn dagegen erhöht, führt das auch zu einem längeren Leben.

 

Die Harvard-Forscher vermuten nun, dass zu geringe Mengen an REST im Gehirn nicht nur das dortige neuronale Geschehen, sondern auch kognitive Prozesse (also das Denken an sich) verschlechtern können. Entsprechend hoffnungsvoll wird im „Spiegel“ eine Forscherin des Harvard-Teams zitiert: „Die Möglichkeit, dass wir durch das Aktivieren von REST das Altern von Menschen verlangsamen könnten, ist extrem faszinierend.“ Stimmt – doch belegen können die Wissenschaftler ihre Annahmen mit ihrer neuesten Untersuchung noch nicht.

 

Alzheimer und Co. „größte Herausforderungen unserer Zeit“

 

Die traurige Wahrheit: Die sogenannten neurodegenerativen Erkrankungen, also Erkrankungen, die mit einem Absterben von Nervenzellen im menschlichen Gehirn einhergehen, sind zwar behandelbar, können aber bisher nicht geheilt werden. Wenn Nervenzellen, die Bausteine des Nervensystems, einmal beschädigt oder abgestorben sind, können sie vom Körper nicht erneuert und nicht ersetzt werden. Alzheimer und Parkinson, die zu den am häufigsten auftretenden neurodegenerativen Erkrankungen gehören, bringen also unausweichlich die fortschreitende Degeneration und schließlich den Tod der Nervenzellen mit sich – mit den bekannten schlimmen Folgen für die Patienten.

 

Dabei ist die Behandlung der massenhaft auftretenden neurodegenerativen Krankheiten vor allem in unserer alternden Gesellschaft zweifellos eine der größten Herausforderungen der Zeit. „Schon heute schätzen Expertinnen und Experten die Zahl der von einer Demenz betroffenen Menschen in Deutschland auf rund 1,5 Millionen. Zusätzlich ist bei schätzungsweise 300.000 Menschen in Deutschland eine Parkinson-Erkrankung bekannt“, heißt es auf der Gesundheitsforschungs-Webseite des Bundesministeriums für Bildung und Forschung5. Und nach aktuellen Veröffentlichungen von JPND, dem EU-Programm zur Erforschung neurodegenerativer Erkrankungen, macht allein die Alzheimer-Demenz mit 60 bis 70 Prozent der Fälle den größten Anteil dieser Erkrankungen aus.6

  

Welche Mittel haben Mediziner heute bereits in der Hand, um neurodegenerative Krankheiten wie Alzheimer und Parkinson zu behandeln? Bisher muss sich die Behandlung auf die Milderung der Symptome beschränken. Bei Alzheimer, geprägt vom fortschreitenden Abbau von Neuronen und sichtbaren Schrumpfen des Gehirns, werden nach Informationen der Deutschen Alzheimer Gesellschaft7 und anderer seriöser wissenschaftlicher Online-Portale Medikamente eingesetzt, die die geistige Leistungsfähigkeit stärken, Verhaltensstörungen mindern und insgesamt die Alltagsbewältigung erleichtern können. Manche Therapien sind auch geeignet, weitergehende  Schädigungen des Gehirns zu verhindern. Sogenannte Memantine können Nervenzellen vor dem beschleunigten Absterben schützen, Acetylcholinesterase-Hemmer erhöhen die Menge des Botenstoffs Acetylcholin im Gehirn und können dadurch helfen, die Denkleistung zu verbessern.

Pflanzliche Wirkstoffe wie Ginkgo biloba werden zur Verbesserung der Reizübertragung zwischen den Neuronen eingesetzt, wovon Gedächtnisleistung und Lernvermögen bis zu einem gewissen Maß profitieren können. Auch Psychopharmaka können geeignet sein, typische Alzheimer-Symptome wie Depressionen, innere Unruhe und Aggressivität zu lindern. Daneben gehört eine umfassende nichtmedikamentöse Therapie zum Standard.

 

Nur symptomatische Behandlung möglich

 

Ähnlich verhält es sich mit der Behandlung der Parkinson-Krankheit8, einer langsam fortschreitenden Gehirnerkrankung, bei der eine bestimmte Gruppe von Gehirnzellen beschädigt wird und schließlich abstirbt. Zu den typischen Symptomen zählen starkes Zittern, Muskelsteifheit in den Extremitäten und Sprachstörungen. Die Ursache: die durch die Krankheit beschädigten Zellen sind ursprünglich für die Produktion des Botenstoffs Dopamin zuständig, der für die Steuerung von Körperbewegungen unerlässlich ist. Durch ihre zunehmend eingeschränkte Funktionsfähigkeit können die Zellen nur noch wenig oder gar kein Dopamin mehr produzieren.

 

Derzeit stehen auch Parkinson-Patienten nur symptomatisch wirkende Medikamente zur Verfügung, vor allem Mittel, die den Abbau von Dopamin verhindern, den Mangel an Dopamin wieder auffüllen sollen oder dessen Wirkung im Gehirn nachahmen. Ebenso setzt man sogenannte Anticholinergika ein, die dem durch den  Dopaminmangel überschüssigen Stoff Acetylcholin entgegenwirken können. Neben den Medikamenten ist auch bei Parkinson eine umfassende Therapie aus viel Bewegung, einer allgemein gesunden Lebensweise und ggf. Physiotherapie erforderlich.

 

Ermutigend kann die Tatsache sein, dass fieberhaft nach gezielten Medikamenten gegen die weit verbreiteten neurodegenerativen Erkrankungen geforscht wird. Die Deutsche Gesellschaft für Neurologie informiert im Internet9, dass Unternehmen derzeit weltweit an mehr als 500 entsprechenden Arzneimitteln arbeiten, davon allein 92 Präparate gegen Alzheimer und 46 gegen Parkinson.

 

Medikamente für ein längeres Leben?

 

Wie steht es aber mit Medikamenten, die allgemein die Lebensdauer verlängern können – dem Traum vieler Menschen, die sich mit dem unausweichlichen Tod nicht abfinden mögen? Ihnen könnten Forscher der Max Planck-Gesellschaft Hoffnung geben. Wie die MPG vor kurzem im Internet veröffentlichte10, kann eine Kombination aus drei Medikamenten die Lebensdauer zumindest von Fruchtfliegen um 48 Prozent verlängern. Forscher vom Max-Planck-Institut für Biologie des Alterns und vom University College London haben dies in einer gemeinschaftlichen Studie herausgefunden. Dabei handelt es sich um drei Mittel, die bereits in der medizinischen Therapie von Menschen zum Einsatz kommen: Lithium, häufig zur Behebung von pathologischen Stimmungsschwankungen eingesetzt, Trametinib, ein Krebsmedikament, und Rapamycin, ein Immunregulativum. Die Ergebnisse deuteten darauf hin, so das MPG, dass dieser Medikamenten-Mix eines Tages altersbedingte Krankheiten beim Menschen verhindern könne. Doch bei aller Forscherbegeisterung wird ebenso weise wie vorsorglich darauf hingewiesen: „Wir versuchen nicht, den Tod zu überlisten, sondern helfen den Menschen, in ihren letzten Jahren gesund und krankheitsfrei zu sein.“

 

Und mehr kann man sich ja eigentlich nicht wünschen.

 

 

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Helga Boschitz
Autor: Helga Boschitz

Helga Boschitz, Jahrgang 1966, ist freie Journalistin und Texterin, lebt in Nürnberg und gehört seit Januar 2016 zum apomio.de-Team. Nach Studium und Ausbildung arbeitete sie seit Anfang der 1990er-Jahre als Magazinredakteurin und Moderatorin in Hörfunk- und Fernsehredaktionen u.a. beim Südwestrundfunk, Hessischen Rundfunk und Westdeutschen Rundfunk. Medizin- und Verbraucherthemen sind ihr aus ihrer Arbeit für das Magazin „Schrot und Korn“ sowie aus verschiedenen Tätigkeiten als Texterin vertraut.

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