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Wird die Neurologie zur „Schlüsselmedizin“ des 21. Jahrhunderts?

Kommentar schreiben Aktualisiert am 06. Dezember 2019

Fast jeder Mensch dürfte im Verlauf seines Lebens mit einem neurologischen Problem zu kämpfen haben. Schlaganfälle, Demenz, Parkinson, Schmerzen, Schwindel, Depressionen, Epilepsien, Multiple Sklerose – dies sind nur einige der denkbaren neurologischen Erkrankungen. Glücklicherweise entwickelt sich die Neurologie in den letzten Jahren rasant: „Manche Krankheiten sind heute heilbar, viele lassen sich zumindest so weit kurieren, dass die Betroffenen ein nahezu normales Leben führen können, ganz anders als noch vor einem Jahrzehnt“ 1, sagt Professor Gereon R. Fink, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Neurologie im Jahr 2018. Wir haben recherchiert, was sich in der Neurologie in den letzten Jahren getan hat und wo sich aktuell Chancen, Probleme und Herausforderungen abzeichnen.

 

Einer der größten Erfolge: Schlaganfälle besser behandelbar

 

Zu einer der herausragenden Erfolge zählen verfeinerte Behandlungsformen für Schlaganfallpatienten. Jährlich erleiden in Deutschland rund 260.000 Menschen einen unerwarteten Schlaganfall. Besonders die Thrombektomie, eine chirurgische Absaugen von Blutgerinnseln im Gehirn mittels eines winzigen Thrombusfangnetzes (Thrombektomie), verbesserte die Überlebensrate bei Schlaganfällen deutlich. Ebenfalls scheint die medikamentöse Auflösung des Blutgerinnsels im Gehirn mithilfe von Blutverdünnern effektiver zu wirken, als bislang angenommen.

 

Die sogenannte Wake-up-Studie aus dem Jahr 2018 lieferte das verblüffende Ergebnis, dass nicht nur Schlaganfallpatienten eine Überlebenschance haben, deren Thrombus innerhalb weniger Minuten nach dem Schlaganfall aufgelöst wurde, sondern auch solche, die während des Schlaganfalls noch geschlafen haben. Das Zeitfenster, in dem Menschen mithilfe eines blutverdünnenden Medikaments zum Auflösen des Thrombus noch eine reale Überlebenschance haben, kann sogar zwischen 4,5 Stunden bis maximal 9 Stunden liegen.2 Doch gilt nach wie vor gemäß der Deutschen Schlaganfall-Gesellschaft, dass „jede Minute zählt“. Schließlich soll nicht nur das Überleben selbst gesichert werden, sondern auch ein gravierender Folgeschaden minimiert werden.3

 

Multiple Sklerose bald heilbar?

 

Auch für Patienten mit Multipler Sklerose gibt es womöglich bald deutliche Verbesserungen der Lebensqualität. Rund 230.000 Menschen in Deutschland sind von der Autoimmunerkrankung betroffen.4 Bei einer MS zerfressen die eigenen T-Wächterzellen aus unbekanntem Grund die Hülle der körpereigenen Nervenzellen im Gehirn und Rückenmark. Damit liegen die Nervenfasern blank und können Nervenimpulse nicht mehr weiterleiten. Dies führt bei einer MS zu Muskelschwäche, Nerventaubheit, Schmerzen, verschwommenem Sehen und Gangproblemen bis hin zu Spastik. Ziel aller bisherigen Therapieoptionen mit Retuximab und ähnlichen Medikamenten war es, die Intervalle zwischen den einzelnen Schüben zu verlängern und die Schwere einzelner Schübe abzumildern.

 

Die Therapien verlangsamten bislang nur das Fortschreiten des Nervenbrands, eine zunehmende Behinderung schritt dennoch bei rund 50 Prozent der Erkrankten merklich fort.4 Die Therapie verhinderte letztlich nur die Hochphasen der Immunfehlreaktion. Ein neuartiger Ansatz aus Stammzelltransplantation von kanadischen Ärzten kann laut Berichten des Tagesspiegel die Krankheit möglicherweise heilen.5 Mittels einer Chemotherapie wurde das Immunsystem im Knochenmark von 24 Patienten quasi vollständig zerstört. Danach erhielt ihr Immunsystem sozusagen eine „Neuformatierung“. Die Patienten erhielten gereinigte Stammzellen, die von gefährlichen Immunzellen gesäubert worden waren, erneut in ihr Knochenmark transplantiert. Das Erstaunliche daran war, dass die Transplantation gesunder Stammzellen zum Stillstand der Erkrankung führte. Auch nach durchschnittlich 7,5 Jahren erlitt keiner der Patienten einen Rückfall. Ein Patient verstarb allerdings im Zuge der sehr radikalen Chemotherapie. Forscher diskutieren nun, ab wann eine Stammzelltransplantation in Frage kommt. Sie plädieren aufgrund der großen Gefahr von Todesfällen nach „Stilllegung“ des Immunsystems, die Behandlung gut abzuwägen. Jedoch plädiert Dr. Harald Prüß, Neurologe am Uniklinikum Charité Berlin dafür, die Stammzelltransplantation „häufiger als bisher im klinischen Alltag bei ausgewählten Betroffenen“ 6 einzusetzen.

 

Hoffnung für die geläufigen Altersleiden Parkinson und Alzheimer

 

Ein weiteres Beispiel für bedeutende Änderungen der Neurologie sind neue Therapieformen für Parkinson- und Alzheimerpatienten. In Deutschland leiden schätzungsweise rund 400.000 an Morbus Parkinson7 und etwa 1,7 Millionen Menschen an einer Demenz8, die Mehrzahl der Demenzpatienten ist von der Alzheimer-Erkrankung betroffen. Am Beispiel des Parkinsons lässt sich der aktuelle Stand der Forschung gut demonstrieren.

 

Bei der Parkinsonerkrankung kommt es durch eine genetische Mutation im GBA-Gen der DNA jeder Körperzelle zu einem GBA-Enzymdefekt, sodass ein wichtiges GBA-Protein falsch zusammengebaut wird. Dadurch werden bestimmte Nervenzellen zunehmend abgebaut. Außerdem findet sich bei dem Parkinson ebenso wie bei Alzheimer das Phänomen der Verklumpung (Aggregation) dieser fehlerhaft gebauten Eiweißmoleküle. Durch eine Fehlfaltung lagern sich die Proteine in den Gehirnzellen als Körnchen (Verklumpungen von Alpha-Synukleiden) ab. Das führt beim Parkinson zu Symptomen wie Zittern in Ruhe, Muskelsteifheit, Gangunsicherheit sowie Begleitsymptomen wie Schlafstörungen oder Depressionen9

 

Molekulararzneimittel gegen Parkinson

 

Inzwischen können für bestimmte Parkinsonformen aber nicht mehr bloß die Krankheitssymptome, sondern auch die Ursachen behandelt werden. Dies machen der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zufolge neuartige „Molekulararzneimittel“ möglich, die die Gendefekte ausgleichen. In den letzten Jahren entschlüsselte man zunächst mithilfe der Molekulargenetik15 Parkinsongene.10 Darauf aufbauend kann bald eine frühere und gezieltere Diagnostik und somit bessere Therapie erfolgen. Außerdem entwickelte man durch die Kenntnisse Molekulararzneimittel, die die individuellen Gendefekte medikamentös korrigieren oder betroffene Enzyme entlasten.

 

Beispielsweise das Arzneimittel "Venglustat" hemmt laut einer Phase-2-Studie die Bildung des Zellbaustein "Glucosylceramid-Synthase 1" (GL-1) beim Parkinson. Das entlastet vermutlich das bei Parkinson zu gering vorhandenen GBA-Enzym, sodass es mehr von den körnchenbildenden Alpha-Synucleiden im Gehirn abbauen kann. Bei 22 Patienten zeigte sich nach mehrwöchiger Therapie, dass die GL-1-Konzentration im Blut und Hirnwasser deutlich sank.11 Ein zweites Molekulararzneimittel gegen Parkinson hemmt offenbar ein überaktive Signalübertragungs-Protein „LRRK2-Kinase“ in den Gehirnzellen.12

 

Ein drittes neuartiges Molekulararzneimittel verhindert das Ablesen der mutierten Gene in den Körperzellen.  Die sogenannten Antisense-Oligonukleotide (ASO's) wirken offenbar bei mehreren chronischen Krankheiten als „Ableseschutz“. ASO's sind in die Zelle eingeschleuste DNA-Bausteine, die bei Parkinson und der frühkindlichen Spinalen Muskelatrophie sowie bei der Nervenkrankheit Chorea-Huntington verhindern, dass zu viele fehlerhafte Proteine in den Gehirnzellen gebildet werden. Leider müssen diese ASO's direkt in das Hirnwasser gespritzt werden.13

 

Auch die Behandlung seltener Erkrankungen zunehmend möglich

 

Wie bereits erwähnt, sind die Entwicklungen auch für Patienten mit seltenen Erkrankungen ein Meilenstein von unmessbarer Bedeutung. Bei der frühkindlichen spinalen Muskelatrophie (SMA) kommt es zum Untergang von Motoneuronen (Bewegungsnervenzellen) im Rückenmark. Motoneurone steuern unsere willkürlichen Bewegungen. Durch die Erkrankung kommt es bei einem bestimmten Typ der SMA bereits bei Säuglingen dazu, dass willkürliche Bewegungen wie das Heben des Kopfes, Krabbeln, Sitzen oder Laufen nicht ausgeführt werden können. Bereits 1995 entdeckte die Forscherin Suzie Lefebvre, dass das krankheitsauslösende Gen auf Chromosom 5 liegt und Forscher fanden heraus, dass dann beide Eltern ein defektes SMN1-Gen zeigen (Survival Motor Neuron = Überlebensmotorneuron).14

 

Heute sind Forscher dabei, eine Screeningmethode zu entwickeln, die schon in den ersten Lebenswochen alle Neugeborenen auf eine Mutation im SMN1-Gen screent und dadurch anschließend sofort medikamentös behandeln lässt. Wie bereits erwähnt, half das Medikament „Spinraza“ mit Antisense-Oligonukleotiden (ASO's), das kurz nach der Geburt der betroffenen Kinder eingesetzt wurde, dass bis zu 88 Prozent der Kinder wider Erwarten ohne Hilfe laufen konnten. Der Genmodulator greift in den Ableseprozess (die Transkription) des Bewegungsneurons SMN2 ein und erhöht die Produktion funktionsfähiger SMN2-Proteine, sodass mehr Motoneuronen im Rückenmark und Hirnstamm „überleben“.15

 

Innovationen zur Migräneprophylaxe Hirntumoren

 

Zur Prophylaxe von Migräne wurden Medikamente entwickelt, die Antikörper gegen das zu Migräne führende gefäßerweiternde und entzündungsfördernde Neuropeptid „CGRP“ bilden. Andere ähnliche Medikamente blockieren den CGRP-Rezeptor. Diese monoklonalen Antikörper kosten das Gesundheitssystem der Deutschen Gesellschaft für Neurologie zufolge im Jahr zwar bis zu 8.000 Euro, doch können sie Studien zufolge die Migränetage im Monat um 2,8 bis 4,7 Tage verringern.

 

Sie verbessern besonders die Lebensqualität und reduzieren die Einnahme von Akutmedikamenten gegen eine Migräneattacke. Dabei sind sie offenbar deutlich besser verträglich als bisherige Mittel zur Prophylaxe von Migräne, dürfen allerdings bei Schwangeren und bei bestimmten Patienten nicht eingesetzt werden, die mit einer CGRP-Problematik kämpfen und dadurch zu Erkrankungen der Blutgefäße neigen sowie zu Wundheilungsstörung und Darmentzündungen.  Bei rund 30 Prozent aller Patienten wirken diese Migräne-Antikörper allerdings nicht. Nach aktuellen Studien können diese auf einen CGRP-Gegenspieler (Antagonist) setzen, der Name des neuartigen Medikaments lautet „Atogepant“. Fraglich ist noch, ob Atogepant womöglich die Leberwerte stark erhöht.16

 

Bessere Therapie gegen aggressive Hirntumore

 

Gegen aggressive Hirntumore vom Typ der Glioblastome wurden bisher nur Chemotherapie, Strahlentherapie und Tumor-OPs eingesetzt. Die personalisierte Medizin in der Neurologie setzt nun auf bestimmte „Marker“ (Markierungsmittel), die vorhersagen können, ob eine bestimmte Therapie gegen das Glioblastom bei ihnen erfolgreich sein wird oder nicht.17 Zum Beispiel soll eine Chemotherapie mit Temozolomid offenbar von vornherein erfolgreicher sein, wenn die Tumorgewebezellen des Patienten eine Genveränderung zeigen, die MGMT-Methylierung genannt wird. Bei dieser Patientengruppe fand man auch heraus, dass die Chemotherapie-Kombination aus Temozolomid und Nitrosoharnstoff noch effektiver wirkt.18

 

Genau zugeschnittene Therapie gegen Epilepsie möglich

 

Ähnlich ist es bei der Behandlung von Epilepsie, auch hier können Medikamente heute zielgerichteter und „personalisierter“ eingesetzt werden. Epilepsie betrifft Ionenkanäle in den Nervenzellen (Nervenzellmembranen). Kommt es zu überhöhtem oder verringertem Fluss der Ionen in den Nerven, kommt es zum epileptischen Anfall. Inzwischen können Medikamente gezielt eingesetzt werden, entsprechend des genauen Ortes des Ionenkanals im Gehirn. Eine genetische Diagnostik bringt heute viele Vorteile. Ist bei einem Patienten beispielsweise das SCN2A-Gen betroffen und handelt es sich um ein Kind, dann kann eine besondere Therapie begonnen werden, bevor es zu Entwicklungsschäden kommt. Auch zeigen Patienten mit betroffenem SCN2A-Gen bei einer Epilepsie gute Therapieeffekte bei Einsatz bestimmter Medikamente, wie zum Beispiel „Fenfluramin“. Zusätzlich fiel auf, dass Patienten mit genau dieser Genmutation auf gängige Medikamente gegen Epilepsie, wie zum Beispiel Carbamazepin, Lamotrigin oder Phenytoin, überhaupt nicht ansprechen.19

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Maria Köpf
Autor: Maria Köpf

Frau Maria Köpf ist seit 2018 als freie Autorin für apomio tätig. Sie ist ausgebildete Pharmazeutisch-technische Assistentin und absolvierte ein Germanistik- und Judaistik-Studium an der FU Berlin. Inzwischen arbeitet Maria Köpf seit mehreren Jahren als freie Journalistin in den Bereichen Gesundheit, Medizin, Naturheilkunde und Ernährung. Mehr von ihr zu lesen: www.mariakoepf.com.

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