AvP-Insolvenz: Der aktuelle Stand
Seit September steht fest: Das Abrechnungszentrum AvP ist insolvent. Besonders die rund 3500 öffentlichen Apotheken, die ihr Vertrauen in die Rezeptabrechnung der AvP setzten, sind vom Konkurs betroffen. Je nach Größe der Apotheke fehlen Monatsumsätze von mehreren Hunderttausend bis teils mehr als einer Million Euro. Seit Anfang November kommt nun Bewegung in die Causa „AvP“. Parallel zum eröffneten Insolvenzverfahren steht die strafrechtliche Aufarbeitung an. Die Staatsanwaltschaft Düsseldorf ermittelt gegen zwei ehemalige Führungskräfte wegen Bankrotts. Des Weiteren wurde nun bekannt, dass sie gegen den früheren AvP-Manager Rolf Clemens auch Anklage wegen Untreue erhebt. Dass die betroffenen Apotheker bald an ihr Geld kommen, bleibt jedoch unwahrscheinlich.
Für tausende Apotheker ziehen sich nie dagewesene Herausforderungen wie ein roter Faden durch das Jahr 2020. Ein Schicksalsjahr, das sich gerade gegen Ende zäh wie ein Kaugummi zieht und nur wage Hoffnungen für 2021 bereithält. Neben den fehlenden Zahlungen für August müssen sich die von der AvP-Pleite betroffenen Apotheken auch mit der Abführung der Umsatzsteuer für diesen Monat auseinandersetzen. Gelder, die ihnen durch die kriminellen Machenschaften zweier Manager völlig unverschuldet fehlen. Gelder, für die sie sich von Seiten der Regierung zunächst keinen Rettungsschirm erhoffen können.
Inhaltsverzeichnis
- Aktueller Stand des Insolvenzverfahrens
- Rund 3500 Gläubiger sind betroffen
- Umsatzsteuer für August wird zur zusätzlichen finanziellen Belastung
- AvP ist seit 2018 bei der Staatsanwaltschaft kein unbeschriebenes Blatt
- Chaotische Buchhaltung wurde letztendlich zum Verhängnis
- Ein Schutzschirm ist auch weiterhin nicht in Sicht
Aktueller Stand des Insolvenzverfahrens
Am 1. November wurde das Insolvenzverfahren bei der AvP Deutschland GmbH eröffnet. Die Verfahren der vier weiteren AvP-Gesellschaften werden am 1. Dezember starten. In einem Schreiben an die Offizin-Apotheken informierte am 2. November der Insolvenzverwalter Dr. Jan-Philipp Hoos die betroffenen Apotheken über das Verfahren und die weiteren Schritte. „Mittlerweile hat die AvP Deutschland GmbH die Abrechnung der verbleibenden Rezepte der Offizinapotheken gegenüber den Kostenträgern abgeschlossen. Hinsichtlich der vielfach geäußerten Frage, ob an den entsprechenden Geldern Aussonderungsrechte der Offizinapotheken bestehen oder diese der Insolvenzmasse zufließen, ist die Sach- und Rechtslage äußerst komplex. Meine dahingehenden Prüfungen dauern noch an.“
Bis zum Abschluss seiner Prüfungen verwahre er die eingehenden Gelder der Kostenträger, ebenso wie die bei Anordnung der vorläufigen Insolvenzverwaltung auf den Abrechnungskonten der AvP Deutschland GmbH vorgefundenen Guthaben weiterhin getrennt von der Insolvenzmasse auf entsprechenden Treuhandkonten auf. Derzeit gehe er jedoch davon aus, dass in der ganz überwiegenden Anzahl der Fälle keine Aussonderungsrechte bestehen.1 Doch gerade in diese Rechte hatten viele Geschädigte ihre Hoffnung gelegt.
Rund 3500 Gläubiger sind betroffen
Bis zum 24. November 2020 müssen alle rund 3500 Gläubiger2 gegenüber dem Insolvenzverwalter eine Forderungsanmeldung abgeben.3 Die Forderungen bewegen sich in Summe im dreistelligen Millionenbereich.4
Ein Bericht von DAZ.online, dem zufolge Noventi allen betroffenen Apotheken sämtliche Forderungen gegen AvP abkaufen möchte und damit zum größten Gläubiger im Insolvenzverfahren der AvP Deutschland GmbH werden könnte5, wurde noch am Folgetag von Noventi dementiert. Der Abrechnungsdienstleister hatte zuvor einer Apothekerin die kompletten Forderungen gegen das insolvente AvP-Rechenzentrum abgekauft.
„Was passiert ist, war lediglich ein spezifischer Einzelfall, um an den Gläubigerversammlungen im Sinne aller ehemaligen AvP–Kunden beteiligt zu sein.“6
Noventi hatte bereits im September nach eigenen Angaben ein 250 Millionen Euro-Hilfsprogramm aufgelegt. Für teilnehmende Apotheken wurde dadurch die erforderliche Liquidität möglichst innerhalb von 24 Stunden sichergestellt. Die Voraussetzungen für eine Unterstützung aus dem Hilfspaket waren unter anderem der Abschluss eines Abrechnungsvertrages bei Noventi sowie die erste Einlieferung von Rezepten. Schätzungen zufolge sind aktuell rund 60 Prozent der ehemaligen AvP-Apothekenkunden zu Noventi gewechselt.7
Mitte Oktober kündigte Noventi an, die Krankenhausapotheken-Sparte von AvP zu übernehmen. Zu dieser gehören knapp 100 Einrichtungen wie beispielsweise die Apotheke der Charité Berlin, des LMU Klinikums München sowie des UKE Hamburg. Das Abrechnungsvolumen in diesem Bereich liegt bei rund 3 Milliarden Euro – laut Noventi der Hälfte aller Krankenhausapotheken Deutschlands.8
Das Abrechnungsgeschäft mit Sanitätshäusern wurde bereits im September vom ARZ Haan übernommen.9 Auch sie hatten ein Auge auf das Krankenhaus-Segment geworfen.10
Umsatzsteuer für August wird zur zusätzlichen finanziellen Belastung
Neben dem fehlenden Geld aus der Rezeptabrechnung kommt für die betroffenen Apotheken noch die Abführung der Umsatzsteuerbeträge an das Finanzamt hinzu. Eine zusätzliche finanzielle Belastung, die sich dadurch begründen lässt, dass gemäß § 2 Abs. 2 SGV V für gesetzliche Krankenkassen das Sach- und Dienstleistungsprinzip gilt. Sie stellen medizinische Sach- und Dienstleistungen bereit, die der Versicherte selbst in Anspruch nimmt, ohne dafür eine Rechnung vom Leistungserbringer zu erhalten. Daher ist nicht der Versicherte selbst, sondern die gesetzliche Krankenversicherung als umsatzsteuerlicher Leistungsempfänger für die von der Apotheke ausgelieferten Arzneimittel zu sehen.
Gängige Praxis ist hierbei die Versteuerung nach den vereinbarten Entgelten. Dabei entsteht die Steuerpflicht, wenn das Arzneimittel abgegeben und dadurch die Forderung begründet wird. Es ist hierbei nicht ausschlaggebend, ob die Apotheken die Zahlung erhält und die Steuer damit vereinnahmt wird. Dies bedeutet, dass die Apotheken die Umsatzsteuerbeträge für August an das Finanzamt abführen müssten, obwohl sie diese gar nicht erhalten haben.11
Gegenüber DAZ beschreiben Theo Clotten und Niko Hümmer von der Rechtsanwalts- und Steuerberaterkanzlei Dr. Schmidt und Partner in Koblenz und Dresden jedoch mögliche Ausnahmen. Für den Fall, dass es um Forderungen gegen AvP geht, argumentieren Clotten und Hümmer, dass diese durch die Bestellung eines vorläufigen Insolvenzverwalters als uneinbringlich einzustufen seien. Dann könne die Bemessungsgrundlage für die Umsatzsteuer gemäß § 17 UStG gekürzt werden.
Für den Fall, dass es um Fremdgelder geht, verweisen die Autoren auf eine mögliche Stundung durch die Finanzämter. Aufgrund der Komplexität und der Unklarheit der rechtlichen Einordnung empfehlen die Experten in dieser Frage offen mit dem zuständigen Finanzamt zu kommunizieren.12
AvP ist seit 2018 bei der Staatsanwaltschaft kein unbeschriebenes Blatt
Parallel zum eröffneten Insolvenzverfahren steht die strafrechtliche Aufarbeitung an. Welche kriminellen Machenschaften in der Führungsetage der AvP zugange waren, belegten zunächst Recherchen des Handelsblattes. Über Jahre hinweg sollen sich zwei Führungskräfte der AvP unrechtmäßig an den Firmengeldern bereichert und so Beträge im siebenstelligen Bereich veruntreut haben.13
Nun wurde vor einigen Tagen bekannt, dass gegen einen der ehemaligen AvP-Manager bereits im August Anklage wegen Untreue erhoben wurde. Rolf Clemens soll im Jahr 2018 über einen längeren Zeitraum mehr als 800.000 Euro unterschlagen haben.14 Damals bezichtigte ein Insider Clemens, in die eigene Tasche zu wirtschaften. Doch die Ermittlungen wurden eingestellt, nachdem ein AvP-Verantwortlicher für ihn Partei ergriff. Heute ist klar, warum die AvP-Führung diese Nachsicht bei einem Fehlbetrag im sechsstelligen Bereich walten ließ: auch die zweite Spitzenkraft Matthias Wettstein soll in die eigene Tasche gewirtschaftet haben. Anders als Clemens nutze er hierzu wohl ein privates Unternehmen und bediente sich mitunter an Daten aus dem Abrechnungsgeschäft. Dass diese Informationen anonymisiert an die Pharmaindustrie verkauft werden, ist ein gängiger und legaler Usus.
Laut Handelsblatt berichteten allerdings Insider, dass AvP die Rechte an der Datenerhebung einer Drittfirma übertragen habe. Diese Drittfirma gehörte allem Vernehmen nach Matthias Wettstein, der einen erheblichen Teil der Erlöse einbehielt.
AvP-Insider gehen davon aus, dass beide Führungskräfte Kenntnis von den Machenschaften des jeweils anderen hatten. Eine Kenntnis, die den Wirtschaftsprüfern hingegen nicht zuteil war. Die fehlerhaften Bilanzen wurden offenbar nie bei den Kontrollen beanstandet.
Ende 2019 kam das Abkommen der beiden Manager zum Erliegen. Clemens, der schon 2018 bezichtigt wurde einige Hunderttausend Euro veruntreut zu haben, bediente sich offenbar in noch größerem Maße. Ein anonymer Hinweis rief erneut die Staatsanwaltschaft auf den Plan. Ohne den wiederholten Zuspruch von Wettstein musste Clemens gehen. In Folge schalteten die kreditgebenden Banken das Düsseldorfer Beratungsunternehmen Andersch ein, dessen Spezialisten vor einer drohenden AvP-Insolvenz warnten. Die Finanzaufsicht wurde hinzugerufen.
Am 10. September wies die Behörde das Unternehmen an, keine Transaktionen mehr zu tätigen, um die Insolvenzmasse nicht zu schmälern. Dennoch soll Wettstein einen Geschäftsführer angewiesen haben, noch rund 127 Millionen Euro an die treuesten Kunden der AvP zu überweisen. Dieser soll sich allerdings geweigert haben und wurde gefeuert. Die Gelder - größtenteils Abschlagszahlungen an Apotheken - wurden abgebucht. Vier Tage später setzte die Bafin den Sonderbeauftragten ein und bereitet dem Ganzen endgültig ein Ende.13
Chaotische Buchhaltung wurde letztendlich zum Verhängnis
Zum alleinigen Fallstrick wurde dem Rechenzentrum der vermeintliche Betrug der beiden Führungskräfte allerdings nicht. Laut Apotheke adhoc spricht das Gutachten des Insolvenzverwalters Hoos von „strukturellen Defiziten“ und einer „chaotischen Akten- und Datenlage“. AvP soll schon lange verlustbringend gewirtschaftet haben, so dass in den letzten Jahren demnach jeweils knapp vier Millionen Euro fehlten. Ein Umstand, der aufgrund vorhandener Rücklagen jahrelang vertuscht werden konnte. Auch der Einstieg in das Krankenhaus-Segment habe ausreichend Liquidität gebracht, so Hoos, denn hierbei musste das Abrechnungszentrum nicht in Vorleistung gehen.
Laut Gutachten wurden außerdem mindestens seit 2013 keine Kassenabschläge mehr in Rechnung gestellt, wenn Kassen sich diesen unrechtmäßig gewährten, obwohl sie nicht innerhalb der vorgegebenen Frist von zehn Tagen ihre Rechnung beglichen wurden. „Möglicherweise war es dem Unternehmen mit seiner unzureichenden Buchhaltung schlicht nicht möglich, die Ansprüche ordentlich aufzuarbeiten.“14
Gegenüber PZ bestätigte Jan-Philipp Hoos: „Der Apothekenrabatt und dessen Abrechnung sind eines der Themen, die von mir im Rahmen des Insolvenzverfahrens aufgearbeitet werden. Schon länger ist bekannt, dass bei AvP strukturelle Probleme und Missmanagement vorlagen, die mit für die Insolvenz verantwortlich sind.“15
Ein Schutzschirm ist auch weiterhin nicht in Sicht
Auf einen staatlichen Rettungsschirm können ehemalige AvP-Kunden auch weiterhin nicht hoffen. Die Beratung des Gesundheitsausschusses über die AvP-Insolvenz am 9. Oktober ergab, dass es von Seiten der Politik zunächst keine schnellen finanziellen und staatlichen Hilfen geben wird.16
Auf die kleine Anfrage der Abgeordneten Stefan Keuter, Franziska Gminder, Kay Gottschalk und der Fraktion der AfD nach einem geplanten Rettungsschirm für betroffenen Apotheken wurde vom Bundestag auf das Sonderprogramm der Kreditanstalt für Wiederaufbau (KfW) hingewiesen, das betroffene Apotheken in Anspruch nehmen können.17
Die Aufarbeitung der AvP-Insolvenz im Gesundheitsausschuss reicht jedoch aus Sicht der FDP-Fraktion offenbar nicht aus. In der Bundestagsdrucksache 19/23681 Ende Oktober wird gefordert, dass die Bundesregierung sich einen Überblick über die Finanzsituation der Apotheken verschafft, die betroffenen Apotheken durch Überbrückungskredite unterstützt und sicherstellen solle, dass die Versichertengelder künftig zuverlässig bei den Apotheken ankommen.18
Ein Punkt, der von vielen Betroffenen angeprangert wird, denn schließlich hat der Staat ein System erschaffen, das Apotheken einem offenbar unvorhersehbaren Risiko aussetzt. Die Abrechnungsgelder unterliegen den strengen Vorgaben des Sozialversicherungssystems und die Regularien der Abrechnung sind extrem komplex. Man hat also quasi keine andere Wahl als die Dienste von Rechenzentren in Anspruch zu nehmen. Eine einzelne Apotheke könnte den zusätzlichen Aufwand der eigenständigen Rezeptabrechnung kaum bewältigen. Wenn dann das aufgrund staatlicher Vorgaben entstandene Kartenhaus in sich zusammenbricht, liegt es nahe, den Staat dafür in die Pflicht zu nehmen. Der Fall AvP wirft so gesehen also nicht nur die Frage auf, wie den betroffenen Apotheken geholfen werden kann, sondern auch, wie in Zukunft solche Ereignisse verhindert werden können.
Quellen anzeigen
Linda Künzig, Apothekerin mit Weiterbildungen im Bereich Homöopathie und Naturheilverfahren. Neben ihrer Tätigkeit in einer öffentlichen Apotheke unterstützt sie seit Mai 2019 die Apomio-Redaktion als freie Autorin.