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Gleichbehandlung mit fatalen Folgen

Kommentar schreiben Mittwoch, 20. November 2019

In Zeiten einer verstärkten Auseinandersetzung mit Geschlechtsidentitäten mag es für Kritiker wie eine Modeerscheinung wirken, dass in der Medizin eine geschlechtsspezifische Unterscheidung hinsichtlich Therapie und Diagnostik diskutiert wird. Fakt ist allerdings: „Mensch heißt Mann in der Medizin“, wie Satiriker Jan Böhmermann kürzlich sehr treffend formulierte1.

 

Wird einer Frau die für Erwachsene empfohlene Dosis des Schlafmittels Zolpidem verordnet, ist ihr Reaktionsvermögen am Morgen nach der Einnahme meist deutlich verringert. Da sie den Wirkstoff langsamer abbaut als ein Mann, bekommt sie die unerwünschte Wirkung des Sedativums wesentlich ausgeprägter zu spüren. In den USA wurde die empfohlene Dosis für Frauen aufgrund dieses geschlechtsspezifischen Unterschieds nachträglich um die Hälfte reduziert2 - ein momentan noch seltener Einzelfall. In deutschen Beipackzetteln sind entsprechende Hinweise bisher nicht zu finden3.

 

Frauen waren und sind in der Medizin unterrepräsentiert

 

Über Jahrzehnte hinweg waren Frauen im gebärfähigen Alter von der Teilnahme an frühen klinischen Studien ausgeschlossen. Hintergrund waren der vorausgegangene Contergan-Skandal in den 1960er Jahren und die Befürchtung negativer Auswirkungen auf die Gebärfähigkeit oder eventuell bestehende Schwangerschaften. Aber auch die Durchführung klinischer Studien wurde aufgrund weiblicher Hormonschwankungen und eventueller Comedikationen zur Empfängnisverhütung vor Herausforderungen gestellt und veranlasste die Forschung dazu eher auf männliche Probanden zurückzugreifen.

 

Erst Mitte der 1990er Jahre wurden wieder vermehrt Frauen in Studien zur Dosierung und Einnahmehäufigkeit eingeschlossen4. Wegbereiter war unter anderem die ausgeprägte Frauenrechtsbewegung in den USA. Zu diesem Zeitpunkt gelangte man oft nur durch die Teilnahme an klinischen Studien an neue, lebensnotwendige Medikamente gegen Aids. Eine Möglichkeit, die Frauen zu dieser Zeit durch den Ausschluss an klinischen Prüfungen verwehrt wurde.5

 

2004 wurde in Deutschland eine einheitliche Einbeziehung von Männern und Frauen in klinischen Studien gesetzlich festgelegt6. Voraussichtlich in den nächsten ein bis zwei Jahren findet dann die neue EU-Verordnung zu klinischen Prüfungen7 Anwendung. Wie bereits im deutschen Recht ist darin geregelt, dass im Genehmigungsantrag für eine klinische Studie aufgeführt sein muss, „ob die Gruppen der an der klinischen Prüfung teilnehmenden Prüfungsteilnehmer die zu behandelnden Bevölkerungsgruppen abbilden“. Sollte dies nicht der Fall sein, muss hierfür eine Begründung erfolgen.

 

Umsetzung der Frauenquote in klinischen Studien

 

Im Jahr 2018 durchliefen in der Europäischen Union 42 neue Wirkstoffe den Zulassungsprozess der Europäischen Arzneimittel Agentur (EMA). Die zugehörigen Daten wurden durch den Verband der forschenden Pharmaunternehmen (Vfa) ausgewertet. Laut Vfa liegt die Frauenquote aktuell in Phase 1 Studien bei 10-40%. In diesem Stadium der klinischen Forschung wird ein Wirkstoff erst-mals am Menschen erprobt. Der Verband begründet die vorliegenden Zahlen damit, dass Probanden in diesem Studienabschnitt keine anderen Arzneimittel einnehmen dürfen. In Folge können bei Frauen durch das Fehlen hormoneller Verhütungsmethoden auch mögliche Schwangerschaften und eventuelle Risiken für den Embryo nicht ausgeschlossen werden. Ein Fakt, der dazu führt, dass männliche Probanden in dieser Studienphase bevorzugt werden.

 

In Studien der Phase II und III liegt der Anteil an Studienteilnehmerinnen bei 30-80%, abhängig von der Indikation. Bei vielen Arzneimittel mit einem höheren beziehungsweise niedrigeren Frauenanteil stimme dieser ungefähr mit der Relation der von der Erkrankung betroffenen Männer und Frauen überein. So lag beispielsweise der Anteil an weiblichen Studienteilnehmern bei zwei Medikamenten zur Migräneprophylaxe bei 84 bzw. 85 Prozent. Im Vergleich lag bei einem Medikament gegen HIV-Infektionen die Frauenquote in den Studien bei 15,5 Prozent und somit leicht unter dem Anteil der in Deutschland betroffenen Frauen.8

 

Gleichstellung mit fatalen Folgen

 

Männer und Frauen unterscheiden sich nicht nur augenscheinlich in ihrem Hormon- und Chromosomenhaushalt. Auch genauer betrachtet gibt es viele Hinweise auf signifikante Unterschiede in der Pharmakokinetik eines Arzneimittels zwischen den Geschlechtern. So benötigt eine Tablette für ihren Weg von der Mundhöhle bis zum Darm einer Frau länger als im Vergleich zum Mann9. Die hepatische Produktion von Stoffwechselenzymen unterscheidet sich ebenfalls10, was einen direkten Einfluss auf die Verstoffwechselung aufgenommener Wirkstoffe hat. Die unterschiedliche Enzymausstattung von Männern und Frauen hat so einen direkten Einfluss auf die Verweildauer und Konzentration eines Pharmakons im Blut. Frauen haben einen höheren Anteil an Körperfett und sind kleiner, der Wirkstoff verteilt sich dementsprechend anders als im männlichen Gewebe.

 

Die Notwendigkeit einer geschlechtsspezifischen Medizin zeigte sich mehr als deutlich in der sogenannten „Digitalis-Überlebensstudie“ aus dem Jahr 1997. Digitalis, ein Wirkstoff aus dem Fingerhut wurde jahrzehntelang sowohl männlichen als auch weiblichen Patienten bei Herzschwäche verordnet. Bei einer Auswertung der Studienergebnisse hinsichtlich der geschlechterspezifischen Unter-schiede im Jahr 2002 stellte man fest, dass bei Frauen die mit Digitalis behandelt wurden, die Sterblichkeitsrate signifikant höher lag als bei jenen, die in der Studie das Placebo erhalten hatten.11

 

Professorin Vera Regitz-Zagrosek gründete 2003 das Institut für Geschlechterforschung in der Medizin (GiM) an der Berliner Charité. Sie macht deutlich, dass Frauen auch bei ärztlichen Behandlungen benachteiligt sein können und führt ein Beispiel aus der Kardiologie an: „Frauen bekommen ihre Herzinfarkte zumeist erst im höheren Alter, und die Symptome unterscheiden sich von denen der Männer“. Dieser Umstand sei von Kardiologen lange ignoriert worden. Zusätzlich seien Frauen oft schlecht informiert. Eine Kombination mit fatalen Auswirkungen: Frauen ziehen bei einem akuten Herzinfarkt später den Notarzt hinzu, und ihre Symptome werden dann nicht immer richtig interpretiert.

 

Der Herzkatheter, bei einem Herzinfarkt die lebensrettende Therapie, bleibt dann aus oder kommt spät, da man mitunter ihre Schmerzen für die Folgen einer Erkrankung im Brust- oder Bauchbereich hält. Zudem werden die wichtigen Antikoagulantien häufig überdosiert, mit der Folge, dass nach der Erweiterung von Herzkranzgefäßen häufiger Blutungen auftreten.12 Dass Frauen vermehrt an den Folgen eines Herzinfarktes sterben, zeigen auch Daten aus den USA.13 Und eine 2018 erschienen Studie zeigt außerdem, dass Frauen die von Ärztinnen behandelt, werden deutlich häufiger überleben.14

 

Die Gender-Medizin steckt noch in den Kinderschuhen

 

Noch ist die Berliner Charité Vorreiter auf dem Gebiet der Gender-Medizin. Als einzige medizinische Fakultät Deutschlands stellen hier Vorlesungen zur geschlechtsspezifischen Medizin ein Pflichtfach für Medizinstudenten dar. An der Universität Ulm wird mit den Curriculum „Gender Medizin“ angehenden Ärzten die Möglichkeit angeboten, die wichtige Schlüsselqualifikation „Gender-Kompetenz“ zu erlangen und ab dem 7. Semester „Gender Medizin“ als Wahlfach zu besuchen.15 Pflicht ist der Besuch dieser Vorlesungen im Vergleich zur Charité nicht.

 

Von Seiten der Politik wird dieser Missstand nur zögerlich realisiert. Das Bundesministerium für Gesundheit stellte im Jahr 2018 erstmals Geldmittel für die Erforschung und Förderung im Bereich „Gender Medizin“ bereit. Rund 3,5 Millionen Euro wurden für Studien im Rahmen des Förder-schwerpunkts “Geschlechterspezifische Besonderheiten in der Gesundheitsversorgung, Prävention und Gesundheitsförderung” eingeplant.16 Bedenkt man jedoch, dass Grundlagen der geschlechts-spezifischen Diagnostik und Therapie erst erarbeitet werden müssen, stellt der Förderumfang den sprichwörtlichen Tropfen auf den heißen Stein dar.

 

Nicht nur Frauen sind unterrepräsentiert

 

Doch nicht nur Frauen sind in klinischen Studien oft unterrepräsentiert. Auch ältere Menschen findet man nur selten als Studienteilnehmer. Begleitmedikationen und bestehende Grunderkrankungen stellen in den meisten Fällen Ausschlusskriterien für diese Probandengruppe dar.17

Aber auch Personen mit Leber- oder Nierenerkrankungen werden seltener in klinischen Studien aufgenommen. Bei ihnen kann im Vergleich zum gesunden Probanden eine veränderte Ausscheidung und Verstoffwechselung der zugeführten Arzneistoffe vorliegen.18

Und auch ethnisch bedingte Faktoren können Einfluss auf die Wirksamkeit und Unbedenklichkeit eines Arzneimittels bei Anwendung an einer anderen ethnischen Bevölkerungsgruppe haben. Ein Beispiel hierfür ist die Laktoseintoleranz. Diese ist bei Europäern und Asiaten deutlich unterschiedlich stark vertreten.19

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Linda Künzig
Autor: Linda Künzig

Linda Künzig, Apothekerin mit Weiterbildungen im Bereich Homöopathie und Naturheilverfahren. Neben ihrer Tätigkeit in einer öffentlichen Apotheke unterstützt sie seit Mai 2019 die Apomio-Redaktion als freie Autorin.

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