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Schafft sich Deutschland im Bereich der Pflege ab? Ein Experteninterview.

Kommentar schreiben Dienstag, 06. April 2021

Ilona Köster-Steinebach, Diplom-Volkswirtin und Geschäftsführerin beim Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V. (APS), fasst das Pflege-Debakel in Deutschland so zusammen: “Wir haben nicht absolut zu wenig Pflegekräfte in Deutschland – aber wir investieren zu häufig falsch, wir brennen sie aus und wir haben Arbeitsbedingungen, die es schwer machen, den Beruf auszuüben!“ Insofern seien dies ein Teufelskreis und eine Abwärtsspirale. Es werde spannend, wie dies nach Abklingen der Pandemie weitergehe. Ein Gespräch mit einer Ökonomin und Expertin in Sachen Patientensicherheit.

 

 

apomio: Frau Köster-Steinebach, warum herrscht in vielen Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen auf vielen Stationen so ein immenser Mangel an Fachkräften?

Ilona Köster-Steinebach: „Grundsätzlich generieren Krankenhäuser in Deutschland Erlöse dadurch, dass sie bestimmte medizinische Prozeduren abrechnen. Und Prozeduren werden in aller Regel durch ärztliches Handeln ausgelöst. Eine ausweichende Pflegepersonalausstattung ist eigentlich nur eine ‚Nebenbedingung‘ für die Vergütung der Krankenhäuser, die im Wesentlichen durch das Durchführen bestimmter Leistungen bestimmt wird. Unter diesen Bedingungen ist es ökonomisch rational, das Pflegepersonal als Kostenfaktor wahrzunehmen und nicht als Einnahmen generierenden Faktor. Aus diesem Grund ist in Deutschland über Jahre und Jahrzehnte hinweg der Druck gewachsen, die Zahl der Pflegekräfte auf Station so gering wie möglich zu halten. So kann es tatsächlich passieren, dass eine Pflegekraft im Nachtdienst vollkommen alleine ist oder nur eine Hilfskraft in der Nähe ist. Eine Abwärtsspirale, die sich immer weiter nach unten schraubt.“

 

apomio: Können Sie veranschaulichen, wie sich diese Schieflage auf die Pflegekräften auswirkt?

Ilona Köster-Steinebach: „Anderen Menschen zu helfen ist eine der wesentlichen Motivationen für den Beruf. Aber permanent diesen Mangel vor Ort zu erleben und damit hadern zu müssen – immer wieder zu erleben, alleine oder zu zweit auf einer großen Station in einer Nachtschicht zu sein und genau zu wissen: “Ich werde einige einem vermeidbaren, möglicherweise sogar tödlichen, Risiko  aussetzen. Und ich muss das! Weil ich nicht in mehreren Zimmern gleichzeitig sein kann, wenn mehrere Patienten klingeln...” Dieser Belastung zu begegnen ist für Menschen, die höchst motiviert sind, Hilfe zu leisten, sehr schwer auszuhalten. Dies ist aus Sicht des APS einer der wesentlichen Gründe dafür, dass viele Menschen diesen Beruf nicht mehr oder nicht lange aushalten. Hier wäre es wichtig traumatisierte Pflegekräfte, die einen Menschen zu Schaden haben kommen sehen, mit guter Aufarbeitung des Geschehenen aufzufangen und mehr zukünftige Sicherheit für Patienten und Personal zu schaffen.“

 

apomio: Wie sieht die aktuelle Lage während der Corona-Pandemie in Deutschland hinsichtlich der Pflegekräfte aus?

Ilona Köster-Steinebach: „Es gab bereits vor der Corona-Pandemie einen substanziellen und strukturellen Fachkräftemangel bei Pflegekräften und bestimmten Arztgruppen. Beispielsweise wurde während der ersten Pandemiewellen händeringend nach Pflegekräften für Intensivstationen gesucht. Gleichzeitig haben eine ganze Reihe von Arztpraxen und Krankenhäusern ganz oder teilweise Kurzarbeit angemeldet. Die Situation ist also nicht so eindeutig, wie sie auf den ersten Blick scheint. Es ist sicherlich so, dass es einen erheblichen Mangel in bestimmten Konstellationen und für bestimmte Berufsgruppen mit speziellen Ausrichtungen gibt. Es hängt stark von Angebot, Spezialisierung und Reaktion der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen auf die Pandemie ab. Auch bei der Pflege stehen wir vor einer ähnlichen Problematik: Nicht jede Pflegekraft ist vorausgebildet, bereit und fähig, jetzt in der Corona-Pandemie beispielsweise auf einer Corona-Station oder einer Station mit isolierten Patienten eingesetzt zu werden.“

 

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apomio: Wie sah die Situation in den letzten 5 Jahren in Deutschland aus?

Ilona Köster-Steinebach: „Selbst vor der Corona-Pandemie ist der Pflegepersonalmangel sehr massiv geworden. Internationale Studien wie die RN4CAST-Studie und veröffentlichte Erfahrungen der Pflegekräfte haben das belegt. Die Auswirkungen auf die Patientensicherheit, aber auch die Auswirkungen auf die Mitarbeitenden vor Ort sind drastisch. In welchem Umfang das freilich im Einzelfall auf bestimmten Stationen der Fall ist, lässt sich schwer pauschalisieren. Aber im Schnitt kann man sagen, dass wir bei der Aufrechterhaltung der jetzigen Versorgungsstrukturen vermutlich Pflegekräfte im Umfang einer sechsstelligen Zahl benötigen. Wir haben daneben verschiedene Diskussionen zum Beispiel zur Über- und Fehlversorgung. Beispielsweise arbeitet das APS (Anm.d.Red. Kurzform für Aktionsbündnis Patientensicherheit e.V.) an der außerklinischen Intensivpatientenversorgung etwa von beatmeten Patienten, die nicht im Krankenhaus versorgt werden. Die Zahlen sind angestiegen, teilweise aufgrund von Versorgungsdefiziten und mangelnder Beatmungs-Entwöhnung. Auch deren Versorgung erfordert viele Pflegekräfte. Insgesamt sind wir inzwischen in der paradoxen Situation, dass Deutschland eigentlich im internationalen Vergleich eine relativ hohe Anzahl von Pflegekräften pro hunderttausend Einwohner im internationalen Vergleich hat. Dennoch zeigt sich in der stationären Versorgung die sogenannte „nurse-to-patient-ratio“ relativ schlecht.“

 

apomio: Woran könnte das liegen?

Ilona Köster-Steinebach: „Zum Einen ist es sicher so, dass viele dieser Entwicklungen einen ökonomisch getriebenen Faktor in sich bergen. Die intensive Diskussion darum, die Pflegepersonalkosten aus den DRG’s herauszurechnen, war sicherlich insofern begründet, als innerhalb des DRG-Systems Pflegekraft nur ein Kostenfaktor und kein Nennfaktor ist.

Andererseits zeigte sich dieses Vorgehen aus Patienten- und Betreuungssicht fatal. Wenn nicht genügend Pflegekräfte vor Ort sind, hat das erhebliche Auswirkungen auf die Patienten, die Genesung, das Entlassmanagement, die Kompetenz bei der Selbstversorgung, die schlechtere Hygiene – das ist alles ein Teil der Paradoxie hierzulande. Je schlechter jedoch die Versorgung des Einzelnen, umso mehr Folgekosten entstehen automatisch.“

 

apomio: Ein kurzer Blick in die Zukunft: Wie sieht die Situation im Pflegebereich, wenn die Abwärtsspirale so weiter geht, in ein paar Jahren aus?

Ilona Köster-Steinebach: „Ich weiß nicht, ob man dafür unbedingt in die Zukunft blicken muss. Wir waren vor Corona schon in einer Situation, in der dieser Teufelskreis an einen Punkt gekommen ist, der in vielen Fällen eine hohe Zahl an Patientengefährdungen und Mitarbeitergefährdungen mit sich brachte.“

 

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apomio: Auch beim Thema Leasing-Kräfte bei Pflegekräften weichen Krankenhäuser bei Engpässen aus.

Ilona Köster-Steinebach: „Leasingpflege anzubieten und einzukaufen ist eine merkliche Tendenz in Deutschland. Gleichzeitig ist es so, dass viele als Pflegekraft erleben, dass sie keinen besonders guten Tarif erhalten, dann auch noch die unbeliebten Dienste machen müssen - auch am Wochenende, an Feiertagen - und sie stattdessen aus der Situation ausbrechen können, indem sie bei einer Leasingfirma anheuern und sagen: “Ich mache nur Dienste, die für mich attraktiv sind!” Das verschärft natürlich insgesamt den Prozess der mangelhaften Sicherheit, der hohen Belastung des Personals durch zusätzliche Eingewöhnung der Leasingkräfte und verschärft für die Leasingkräfte die Situation der Entfremdung von den Patienten, da sie immer nur kurz eingesetzt werden. Das erhöht wiederum die Risiken bei der Patientensicherheit.“

 

apomio: Bräuchte man hier nicht für mehr Hoffnung und ehrliche Verbesserungsansätze, damit dieser Teufelskreis durchbrochen werden kann?

Ilona Köster-Steinebach: „Zunächst einmal ist muss es in unserer Gesellschaft wichtig sein, dass Pflegekräfte einen wirklich angemessenen Lohn vergütet bekommen. Dies ist wichtig, damit Pflege nicht mehr als Dumpingbereich begriffen wird. Außerdem müsste ein Qualitätsmanagementsystem geschaffen werden, das erlaubt, nicht nur Überlastungsanträge zu stellen, denen dann auch konsequent und zügig nachgegangen wird, sondern das auch Pflegekräfte ermutigt, sich am Qualitätsmanagement zu beteiligen. Das wird in der Realität leider sehr unterschiedlich gehandhabt. Das liegt in der Regel immer noch in ärztlicher Hand - hier wäre es nötig die Anerkennung zwischen ärztlicher und pflegerischer Profession zu verändern.“

 

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apomio: Warum ist die Bezahlung im Pflegebereich immer noch zu schlecht?

Ilona Köster-Steinebach: „Ich glaube, wir können als Gesellschaft nicht vorgeben, Pflege als essentiellen Wert anzuerkennen, wenn wir die Pflegekräfte nicht besser bezahlen. Leider ist derzeit gerade der Versuch, die Pflegegehälter bundesweit einheitlich tariflich zu regeln, am Widerstand der konfessionellen Einrichtungen gescheitert. Das ist gerade in Zeiten von Corona ein sehr problematisches Signal. Aber es geht nicht nur um bessere Bezahlung – es geht auch um die Anerkennung, dass Pflege ein lebensnotwendiger Fachberuf ist. Hier besteht in der Gesellschaft gefühlt die Einstellung “Menschen werden ja zunächst zu Hause gepflegt und nur, wenn man es zeitlich oder fachlich nicht mehr schafft, nimmt man Fachkräfte zur Hilfe.” Diese Einstellung stimmt so nicht. Pflege kann eben nicht jeder!

Im Gegenteil: Pflege ist ein äußerst wichtiger Beruf, der genauso wichtig ist wie der eines Arztes oder anderen Berufes in unserer Gesellschaft, die besser bezahlt werden.“

 

apomio: Wir danken Ihnen herzlich für das Gespräch.

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Maria Köpf
Autor: Maria Köpf

Frau Maria Köpf ist seit 2018 als freie Autorin für apomio tätig. Sie ist ausgebildete Pharmazeutisch-technische Assistentin und absolvierte ein Germanistik- und Judaistik-Studium an der FU Berlin. Inzwischen arbeitet Maria Köpf seit mehreren Jahren als freie Journalistin in den Bereichen Gesundheit, Medizin, Naturheilkunde und Ernährung. Mehr von ihr zu lesen: www.mariakoepf.com.

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